Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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      Ich bin ein leeres Gefäß, das jemand beabsichtigt, zu füllen. Etwas regt sich in mir, etwas Fremdes wühlt in meiner Brust. Meine Augen müssen etwas von meinen Gedanken preisgeben, denn Sunshines Lächeln erstirbt völlig. Ihr Gesicht wird dunkel, als hätte sich eine schwarze Wolke vor die Sonne geschoben. Ich bekomme eine Gänsehaut und versuche zu lächeln, doch stattdessen kullert eine Träne meine Wange hinunter. Mutter Sunshine nimmt mich in den Arm und flüstert: „Ich hätte dir das gerne erspart. Doch wir müssen sichergehen, dass dein Wille erfüllt wird. Dass alles Schreckliche, was du erlebt hast, aus deinem System verschwunden ist. Sonst wirst du auf ewig im Teufelskreis der Gewalt stecken bleiben. Wir tun es, damit du frei sein kannst.“

      Ihre Worte machen mir Angst, doch ich folge ihr wie ein braves Kind der Mutter, als sie sanft meine rechte Hand ergreift und mich durch eine Tür führt. Wir betreten einen dunklen Raum, in dem nichts zu sehen ist. Ein Scheinwerfer geht an und erleuchtet einen einsamen Stuhl. Sunshine lässt mich Platz nehmen. Dann spüre ich etwas Kaltes an meiner Stirn, ein Ziehen und einen Druck. Etwas saugt sich an meinen Schläfen fest. Es schmerzt nicht, doch es ist unangenehm.

      „Du bist jetzt an ein Gerät angeschlossen, das deine Gehirnströme misst. Ich werde dir ein paar Fragen stellen und dir Bilder zeigen.“ Ich verkrampfe mich. Es gefällt mir hier nicht. Doch ich habe keine Wahl … oder?

      „Denk immer daran: Wir tun das, um sicherzugehen, dass dein Wille respektiert und ausgeführt wird“, sagt Sunshine und nimmt mir jede Möglichkeit zu wählen. Wenn mein altes Ego seinen Tod wollte, warum darf es über mich, die ich hier und jetzt lebe, entscheiden? Hat es nicht alle Macht, alles Recht aufgegeben, als es sich löschen ließ, wie ein virenbefallenes Programm? Doch ich weiß zu wenig, um entscheiden zu können, ob das hier okay ist, ob ich das hier wirklich wollte oder will. Wie ein Neugeborenes ohne jede Erfahrung habe ich keine Grundlage, auf deren Basis ich entscheiden kann.

      Also bleibe ich gehorsam sitzen.

      „Wie ist dein Name?“, fragt Sunshine und ich spüre ein Spannen an den Schläfen.

      „Ich habe noch keinen Namen.“ Und das ist die Wahrheit.

      „Was siehst du?“ Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, leuchtet eine Wand auf. Weiß und Schwarz trennen sich. Nicht mehr, nicht weniger.

      „Schwarze Flecken“, erwidere ich und schrumpfe in mich zusammen. Das ist sicher nicht das, was Sunshine hören wollte. Werde ich jetzt bestraft?

      „Erinnern sie dich an irgendetwas?“ Ich schüttle den Kopf und verwerfe in einem Atemzug den Gedanken, irgendetwas zu sagen, um Sunshine glücklich zu machen. Um wieder von diesem Stuhl zu dürfen. Der Druck an meiner Schläfe ist unangenehm. Ich will hier weg.

      „Ich benötige eine verbale Antwort.“ Ich atme tief durch und sage: „Nein.“ Wie soll es auch? Dann spüre ich einen Stich im Nacken. Erschrocken schreie ich auf, mein Kopf wird nach hinten gezogen und ich durchlebe alles, was heute geschehen ist. Etwas wühlt in der Schwärze meines Geistes, sucht, stöbert, lässt mir keinen Platz zum Verstecken. Tief dringt es in mich vor und ich weiß, dass, wenn ich Geheimnisse hätte, es sie wie ein Staubsauger in sich aufsaugen würde. Doch da ist nichts. Wie kann da auch etwas sein? Ich fühle mich leer, weil ich leer bin. Wie eine Flasche hat man mich umgekippt und mein Inhalt, alle Erinnerungen sind im Sandboden versickert. Unerreichbar für mich. Für immer verschwunden?

      Ich atme schwer und als ich glaube, ich müsste unter dem Druck zerbrechen, sehe ich in der Dunkelheit ein Licht. Verzweiflung kommt in mir auf und Angst. Was da auch immer in mir lauert, darf nicht gefunden werden. Kurz bevor der Staubsauger das kleine Licht erreicht, erstirbt der Sog. Ich keuche, zwinkere und spüre Arme um mich. Der Duft nach einer Sommerwiese erfüllt mich und Sunshine drückt mir ihre Lippen auf die Stirn.

      „Es tut mir leid, aber ich musste sichergehen, dass wir alle Erinnerungen gelöscht haben. Die Prozedur ist nicht angenehm, aber jetzt besteht kein Zweifel, dass du neugeboren bist.“ Sie streichelt mir die Haare aus der Stirn und ich frage mich kurz, was passiert wäre, wenn sie das Licht in mir entdeckt hätte, wenn sie den Staubsauger nur einen Moment länger in mir hätte wüten lassen.

      Ich halte den Mund, versuche ein Lächeln und taste vorsichtig in mir herum. Das Licht ist nicht zu finden, doch ich kann spüren, dass es da ist. Ich bin nicht vollkommen leer, etwas haben sie mir nicht nehmen können. Und was auch immer es ist. Ich werde es mit Zähnen und Klauen verteidigen. Kurz wundere ich mich, wo der Kampfgeist herkommt. Wieso sträubt sich in mir alles, wenn ich genau das hier wollte?

      Sunshine legt mir ein weißes Armband um, Oktober Montag leuchtet schwarz auf der Anzeige auf, als ich das Armband berühre.

      „Dein biologischer Charakter scheint sehr stark ausgeprägt zu sein. Viele Neugeborene können die erste Zeit nur Befehle befolgen. Die wenigsten sprechen direkt nach der Wiedergeburt und ich habe noch niemanden erlebt, der solche Fragen stellt wie du. Das ist ungewöhnlich. Du bist etwas Besonders.“ Das klingt nicht danach, als wäre es etwas Gutes. Ich versuche mich zurückzuhalten, doch mein Gesichtsausdruck scheint mich zu verraten.

      „Charakterstärke kann etwas Gutes sein, aber es wird die Anfangszeit, die Akzeptanzphase, nicht erleichtern.“ Und wieder sind es all die kleinen Dinge, die Sunshine nicht sagt, die mich aufhorchen lassen.

       Es ist besser sich anzupassen, nichts in Frage zu stellen und alles so zu akzeptieren, wie es ist.

      Eine Frage liegt mir auf der Zunge, doch ich schlucke sie herunter. Und die unausgesprochenen Worte gesellen sich tief in mir zu dem Licht, das ich nicht erreichen kann: Was hätte Sunshine getan, wenn sie etwas in mir gefunden hätte?

      „Lass mich dich in dein Zimmer bringen. Deine Zimmergenossen sind sicher schon gespannt auf dich.“

      Zimmergenossen? Sunshine führt mich durch eine Tür, einen Gang entlang, dann eine Treppe hoch und vor meinen Augen explodiert eine Welt, zerreißt alles in Stücke, was ich geglaubt habe zu wissen. Ich öffne meinen Mund, doch kein Laut entschlüpft meinen Lippen. Vor mir sehe ich ein gläsernes Labyrinth aus Rolltreppen. Kreuz und quer überschneiden sie sich, winden sich umeinander. Auch wenn ich niemanden außer Sunshine und mir sehe, ist alles in Bewegung.

      Glaswände rahmen das Labyrinth ein. Sie sind übersät mit Türen. Woher weiß man, wohin man rollt? Wie kann man entscheiden, wo man hin will und wie man dorthin kommt? Ich verliere das Gefühl für unten und oben und meine Knie werden weich. Dann spüre ich Sunshines warme Hand auf meiner Schulter.

      „Keine Angst! Alles hat ein System. Alles hat einen Anfangspunkt und ein Ende. Ich bin da, bis du deinen eigenen Weg findest.“

      Es klingt wie ein Versprechen. Es klingt wie eine Drohung. Ich bin überwältig und nicke nur, denke an das kleine Licht in mir, das im Moment das einzige Ziel ist, das ich habe.

       Wie soll ich wissen, was ich will, wohin ich will, wenn mein altes Ich alles aufgegeben hat, was ich einmal war?

       Wie kann ich eine Zukunft haben ohne Vergangenheit?

       Wie kann ich stark sein, ohne zu wissen, was mich schwächt?

       Wie kann ich laufen, ohne zu wissen, wie man geht?

       Wie soll ich tauchen, wenn ich mich nicht daran erinnere, wie man atmet?

       Was ist passiert? Was hat mich so zerstört, dass ich nicht mehr ich sein wollte?

       Was habe ich getan?

       Was wurde mir angetan?

       Bin ich ein Täter?

       Bin ich Opfer?

       Bin ich noch ein Mensch oder ein Computer, bei dem man auf Neustart gedrückt hat?

      Ich folge Sunshine wie in Trance, merke nicht, wie wir auf welche Treppe steigen, welche Abzweigung wir entlangrollen. Obwohl sich der Boden unter mir bewegt und ich einfach stehenbleiben könnte, setze ich einen Fuß vor den anderen.


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