Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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bedeutet Rückkehr? Wohin soll ich zurückkehren, wenn alles, was ich kenne, hier versammelt ist? Wenn alles, was ich liebe und brauche, mir in Dannies Lächeln entgegenstrahlt? Ich will nicht zurück in eine Welt, die mein altes Ego gebrochen hat. Eine Gesellschaft, die mein altes Ich dazu getrieben hat, mich und alles, was mir je passiert ist, vergessen zu wollen.

      „Ist alles in Ordnung, Mo?“

      Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Dannie weigert sich mich Oktober oder Montag zu nennen. Ich kann ihr nicht böse sein, auch wenn sie mir mein Recht, einen Namen zu wählen, entrissen und sich zu eigen gemacht hat, gehe ich auf in diesen zwei Buchstaben. Mo. Es fühlt sich richtig an, wenn es aus ihrem Munde kommt.

      „Mir geht es gut, Dannie“, antworte ich lächelnd.

      „Dann solltest du etwas essen. Du stocherst seit Ewigkeiten in deinem Mittagessen herum!“ In ihrer Stimme klingt Sorge mit, wo Vorwurf herrschen sollte.

      Essensverschwendung wird nicht gern gesehen. Man hat uns erzählt, dass es Menschen gibt, die hungern und alles tun würden für ein Stück Brot. Hunger … das Wort bedeutet mir etwas, doch ich kann es nicht fassen. Es müsste mehr als ein Wort sein, ein Gefühl und doch klingt es leer. Bevor ich darüber nachdenken kann, entschlüpft der Gedanke meinem Mund: „Ich möchte wissen, wie es ist hungrig zu sein.“

      Dannies Augen weiten sich vor Schreck. Und meine Wangen brennen vor Scham. Ich bin undankbar. Meine Hand zittert, als meine Gabel Gemüse aufspießt und in meinen Mund schiebt. Dannie blickt zu mir, dann zu ihrem Essen. Ihre Augen glitzern, ihr Mund bewegt sich, doch ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Ihr Blick wird dunkel. Wie eine vollgegossene Tasse schwappen ihre Augen über und eine Träne kullert ihre Wange hinunter. Sie blinzelt, wischt sie ab.

      „Dannie? Alles okay?“ Sie blinzelt wieder, nickt und lächelt mich an.

      Doch statt Freude durchsticht Traurigkeit mein Herz. Etwas hat Dannies Licht getrübt. Einen Film der Traurigkeit über ihren Glanz gelegt. Und ich habe das Gefühl, ich hätte ihr etwas genommen. Meine Worte haben ihr etwas entrissen und sich zu Eigen gemacht, aus purem Egoismus.

      Ich bin sprachlos, weiß nicht, was ich getan habe und wie ich es wieder gut machen kann. Schweigend gehen wir zum Unterricht. Wir sprechen kein Wort und ich verliere bei meinem Schal eine Masche nach der anderen.

      Handarbeit liegt mir nicht. So viel wusste ich schon nach der ersten Stunde und doch besuche ich den Unterricht, weil Dannie hier ist. Irgendwie habe ich es bei meinem Einstufungstest geschafft, in keinem von Dannies Kursen zu landen. Und so bleiben uns nur die freien Kurse. Auch wenn ich lieber Stunden in der Bibliothek verbringen würde, sitze ich in Stricken, nur um bei Dannie sein zu können. Ich fühle mich etwas albern dabei, doch ich kann einfach nicht anders.

      Ich habe zwei linke Hände. Und während Dannie normalerweise alles wie ein Schwamm in sich aufsaugt und mit ihren Händen zaubern kann, hat ihr Schal mehr Löcher als meiner. Die Lehrerin ruft sie raus und Dannie kommt mit roten Augen wieder. Der Schal bekommt mehr Löcher.

      „Dannie …“, flüstere ich leise und obwohl ich die Konzentration der anderen stören könnte, ist mir das jetzt egal. Sie schüttelt nur den Kopf und presst die Lippen aufeinander. Ich packe sie an der Hand und zerre sie aus dem Unterricht. Man starrt uns an, lässt uns jedoch gewähren. Ich ziehe sie an den Glaswänden vorbei in den einzigen Raum, der uns für kurze Zeit etwas gibt, das ich geglaubt habe nicht mehr zu brauchen: Privatsphäre.

      Das Klicken des Schalters ist das Go unserer Stoppuhr. Die öffentlichen Toiletten geben uns nur 10 Minuten. Ich ergreife Dannies Hände, drücke meine Lippen auf ihren Handrücken.

      „Was ist los?“, flüstere ich, als hätte ich ein Geheimnis. Dannie presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf. Tränen steigen in ihre Augen. Ich nehme sie in den Arm und streichle über ihren Kopf, wie es Sunshine tun würde.

      „Du kannst mir alles erzählen“, sage ich und wiege sie hin und her.

      „Schwörst du, es niemandem zu sagen?“, flüstert sie leise.

      „Natürlich! Wir sind doch Freunde.“ Freunde … weiß ich überhaupt, was Freundschaft bedeutet? Soweit es meine Erinnerungen betrifft, habe ich noch nie eine Freundin gehabt. Dannie versteift sich in meinen Armen. Habe ich das Wort, dessen Bedeutung ich noch nicht nachempfinden kann, zu früh ausgesprochen? Mich geirrt? War es nur Freundlichkeit, die Dannie mir gezeigt hat und keine Freundschaft?

      „Ich … ich erinnere mich.“ Die Worte sind nicht existent. Sie dürfen nicht wahr sein. Ich rücke von Dannie ab und blicke in ihre tränenden Augen. Freude kämpft in mir mit Neid und Angst.

      „An was erinnerst du dich?“, wage ich kaum zu fragen und muss es doch wissen. Wie es wohl ist, sich zu erinnern? Zu wissen, wer man war?

      „Es ist ein Gefühl, … das ich nicht kennen sollte. Ich erinnere mich daran, wütend zu sein und zu hassen. Ich hasse den Hunger und bin wütend über die Ungerechtigkeit. Etwas Schlimmes ist passiert. Ich spüre Trauer in mir und so viel Hass.“ Während sie spricht, sehe ich die Schatten in ihren Augen tanzen. Ist das Wut oder Hass?

      „Was … was ist passiert?“, frage ich zögerlich. Die Verantwortung wiegt schwer auf meinen Schultern. Meine Worte haben Dannies Damm gebrochen. Doch sie schüttelt den Kopf.

      „Ich weiß es nicht. Da sind Menschen um mich … ich … ich bin angekettet, kann mich kaum bewegen. Dann ist da nur noch Wut und Hass …“ Ihr kleiner Körper zittert unter meinen Händen.

      „Versprich mir, dass du niemandem davon erzählst! Ich … ich habe Angst …“ Tränen steigen mir in die Augen, ich presse den kleinen, dünnen Körper an meinen.

      „Ich verspreche es, Dannie.“ Sie weint in meinen Armen, bis das innere Licht ausgeht und wir wieder den Augen aller preisgegeben werden.

      „Lass uns in unser Zimmer gehen, du ruhst dich aus und ich lese dir etwas vor“, sage ich und Dannie nickt. Ich nehme ihre kalte Hand und ziehe Dannie in Richtung unseres Quartieres.

      Die anderen sind alle im Unterricht. Wir sehen sie in ihren Glasquadraten und sie sehen uns. Und ich wünsche mir nichts mehr als Dunkelheit, die uns verschluckt, die uns Schutz gibt vor den neugierigen Blicken. Ich mache mich so groß und breit wie möglich, will Dannie mit meinem Körper von den Blicken abschirmen, doch sie haben von allen Seiten Zugang und ich komme mir vor wie eine zweidimensionale Zeichnung in einer dreidimensionalen Welt.

      Als wir endlich nach dem Spießrutenlauf in unserem Zimmer ankommen, helfe ich Dannie beim Entkleiden, decke sie bis zur Nase zu, setze mich auf die Bettkante und greife nach einem Buch, das ich vor wenigen Tagen in der Bibliothek gefunden habe. Ich war so glücklich, als ich herausgefunden habe, dass ich lesen kann. Es ist eine seichte Geschichte über einen kleinen Jungen, der von Planet zu Planet hüpft, auf der Suche nach Freunden.

      Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, als Sunshine ans Bett tritt. Ihr Gesicht ist voller Sorge.

      „Was ist mit Dannie?“, fragt sie leise. Ein Blick verrät mir, dass Dannie eingeschlafen ist. Ich öffne den Mund, doch bevor die Worte herauspurzeln können, fange ich sie ein, verdrehe sie und höre mir selbst entsetzt zu, wie ich lüge.

      „November hat doch in wenigen Tagen ihren Abschluss. Dannie hat Angst, dass wir sie nie wiedersehen werden. Ich … ich fühle mich auch etwas unwohl. Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt. Es ist schwer, jemanden gehen zu lassen.“ Meine Wangen brennen und ich kann Sunshine nicht in die Augen blicken. Ich habe in einem Monat nur wenige Sätze mit November gewechselt. Sie ist sehr distanziert und wirkt … leer, wie so viele andere. Wenn ich mir gegenüber ehrlich bin, freue ich mich ein wenig, dass sie bald nicht mehr da sein wird.

      Sunshine setzt sich neben mich, nimmt mich in den Arm und streichelt mir über den Kopf: „Veränderung ist ein Teil unseres Lebens. Es muss nichts Schlechtes sein. November Sunday mag euren direkten Umkreis verlassen, aber sie macht auch Platz für jemand neues.“

      Ich nicke und flüstere: „Danke!“, während ich nicht weiß, wie ich je wieder in den Spiegel


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