Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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      „Ich … seit dem Tag … kurz vor Novembers Abschluss.“ Sunshine zieht die Augenbrauen zusammen, etwas wühlt in meinem Kopf.

      „Du hast mich also angelogen.“ Enttäuschung kann ich nicht hören und doch erfüllt mich Scham, ich senke den Blick. Mit einem Finger hebt Sunshine mein Kinn an, zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen.

      „So jung, kaum wiedergeboren, und schon lügst du. Ist es doch nicht die Erfahrung, die uns verdirbt? Liegt es in unserem Erbgut?“ Sie runzelt die Stirn.

      Scham wird zu Schmerz und ich weine. Ich bin unrein, verdorben. Unter Schluchzen zwänge ich hervor: „Ich wollte nicht lügen … aber … Dannie … ich habe es ihr versprochen.“

      „Du willst aus Freundschaft gelogen haben?“, fragt die Frau, die ich Mutter nenne, eiskalt.

      „Ich wollte es nicht. Ich habe mich so schlecht gefühlt. Es tut mir leid!“ Ich kann die Tränen nicht aufhalten. Mein Körper zittert.

      „Was wird jetzt aus mir?“ Flehentlich suchen meine Augen nach Trost und ich bekomme ihn, als Sunshines Hand über mein Haar streichelt. Es ist eine kleine Geste, die mir so viel bedeutet. Ich würde alles tun, um wieder von dem warmen Gefühl der Sicherheit umhüllt zu werden.

      „Ich muss dich bestrafen. Auch wenn es aus Freundschaft war, hast du gelogen. Die Lüge ist eine Seuche, die sich von Vertrauen ernährt. Du wirst mit dem Gedanken leben, dass ich dir nicht mehr vertraue. Jedes deiner Worte anzweifle. Auch deine Schwestern werden jede deiner Aussagen mit Vorsicht behandelt.“ Ich schluchze lauter, weine heftiger. Was habe ich nur getan? Ich habe die Wahrheit in mir getötet und habe Dannies Leiden nur verlängert, anstatt ihr zu helfen.

      „Wirst du wieder lügen?“ Ich schüttle eifrig den Kopf und schreie fast: „Nie wieder! Ich werde nie wieder lügen!“

      „Und warum?“ Verwirrt sehe ich Sunshine an.

      „Warum wirst du nicht mehr lügen?“, wiederholt sie.

      „Lügen gebären Lügen. Sie machen unrein und vergiften Geist und Seele. Sie fressen die Wahrheit und bringen am Ende nichts als Trauer.“ Die Worte kommen aus meinem Herzen. Sunshine scheint zu frieden. Sie nickt, lässt von meinem Kinn ab.

      „Das ist gut, meine Tochter. Gut! Doch ich muss dir noch ein paar Fragen stellen. Ich hoffe inbrünstig, dass du mir die Wahrheit sagst.“ Ich nicke eifrig, erfüllt von dem Wunsch zu gefallen.

      „An was hat Dannie sich erinnert?“ Stille folgt. Ich durchsuche mein Gehirn.

      „Sie … sie hat nicht viel gesagt. Nur, dass sie sich an Gefühle erinnert. An Wut und Hass“, erwidere ich zögernd.

      „Mehr nicht?“, fragt Sunshine zweifelnd und als ich den Kopf schüttle, spüre ich, wie etwas in meinem Gehirn herumtastet.

      „Mehr nicht?“, wiederholt Sunshine und ich sage: „Nein, nur das.“ Verstehend nickt Sunshine.

      „Gefühle sind stark und häufig irrational. Ihr altes Ich muss sehr intensiv gehasst haben und voll gewesen sein mit Wut. Nur so kann ich mir das Überbleibsel erklären. Aber keine Angst, Dannies Geist wird gereinigt.“ Ein Funken Hoffnung keimt in mir. Dannie wird mich wieder fröhlich anlächeln. Tief in mir bewegt sich das Licht, das ich nicht fassen kann, lacht mich leise aus.

      „Ich lasse dich wieder zurück zu deinen Schwestern. Deine Strafe werden ihre Blicke sein. Außerdem wirst du solange nicht wieder ‚Ich spreche die Wahrheit‘ mit uns sagen, bis ich dir wieder vollkommen vertraue. Es wird dich und die anderen daran erinnern, dass du gelogen hast.“

      Ich nicke ergeben. Ich habe diese Strafe verdient.

      Sunshine macht die Ketten los und ich folge ihr beschämt mit hängendem Kopf. Nicht einmal der Anblick des Glaslabyrinthes mit seinen unzähligen Rolltreppen kann mich bewegen. Ich fühle nichts außer Scham.

      Es vergehen drei Wochen, in denen Dannie nicht wiederkehrt. Dauert eine Wiedergeburt so lange?

      Jeden Tag, der verstreicht, ziehe ich mich tiefer in mich selbst zurück. Die anderen bedenken mich nicht mit verachtenden Blicken. Sie beachten mich überhaupt nicht. Als wäre ich weniger als Luft. Und mir wird zum ersten Mal bewusst, dass es Dannies Wärme und Freundlichkeit gewesen sind, die es mir leicht gemacht haben, mich hier einzuleben.

      Ohne Dannie erscheint mir die Welt kalt, leer und gleichgültig. Nur Sunshine lächelt und strahlt. Doch der Argwohn in ihren Augen erinnert mich an meinen Frevel. Ich fühle mich leer und sehne den Tag herbei, an dem Dannie wiederkommt. Doch sie kommt nicht. Eintausend Mal öffne ich den Mund, will nach Dannie fragen und schließe ihn, ohne dass ein Laut entkommen kann.

      Es ist an einem langweiligen Tag, während dem Mittagessen. Mein üblicher Platz, abseits von meinen Schwestern, ist besetzt und ich muss weit durch das Meer von Weiß laufen, bis ich ein freies Fleckchen finde. Ich setze mich und esse lustlos, verabscheue mich für meine eigene Undankbarkeit. Mein Teller ist leer, als ich aufblicke und das Mädchen mir gegenüber ansehe. Meine Lungen schreien nach Sauerstoff, doch ich kann nicht atmen.

      Dannie! Sie sieht anders aus. Ihre Schultern sind nach unten gesunken, sie sitzt seltsam gebeugt da, doch es sind ihre wilden Locken und ihre feinen, schmalen Finger, die so gekonnt stricken, häkeln und nähen können.

      „Dannie!“, rufe ich und erhalte keine Reaktion. Automatisch greift meine Hand nach ihrer. Der Kopf hebt sich und ich erwarte den gerechtfertigten Vorwurf. Doch was ich sehe, ist wie ein Tritt in die Eingeweide. Dannies Augen sind leer. Keine Fröhlichkeit, kein Glitzern. Als hätte jemand ein T-Shirt zu oft gewaschen und über Tage in der brennenden Sonne hängen lassen, das einstige Himmelblau zu einem Blaugrau verwaschen und ausgebleicht.

       Sie wollen mir alles nehmen. Das bisschen, das ich habe, wollen sie mir wegnehmen!

      Dannies angsterfüllte Worte ziehen sich wie die Krallen eines Raubtieres durch mein Gehirn.

       Du hast es versprochen, Mo! Du hast versprochen, es niemandem zu sagen!

      Die Erleichterung, als die Wahrheit aus mir herausbricht, malt meine Welt dunkel.

       Sie werden mich wieder töten und es ist deine Schuld, Mo.

      Die Bedeutung von Dannies letzten Worten erreicht mein Gehirn.

      Ich will schreien, doch meine Hände fangen jeden Laut auf. Meine Beine tragen mich immer schneller, immer weiter weg von der Puppe, die einst Dannie gewesen ist. Ich habe das Dannie angetan. Ich bin schuld, dass Dannie tot ist. Sie haben meine Dannie getötet und nur eine leere Hülle übriggelassen.

      Ich eile durch gläserne Gänge. Die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Ich fühle, wie sich die Treppen unter meinen Beinen bewegen. Doch ich eile weiter. Weg, ich muss weg. Ich fliehe vor Dannies leeren Augen, will der Schuld fortlaufen. Doch je schneller ich bin, desto enger presst sie sich an meine Brust, umgarnt mich. Ich taumle durch eine Tür, laufe einen langen Gang entlang, stolpere über meine eigenen Beine und falle.

      Der Aufprall schmerzt und ich heiße den Schmerz als Strafe willkommen, bleibe liegen und weine. Wie lange ich daliege, weiß ich nicht, als ich plötzlich eine freundliche Stimme höre.

      „Geht es dir nicht gut? Kann ich dir helfen?“

      Ich wische mir die Tränen von den Wangen, richte mich auf und blicke in tiefe blaue Augen. Wärme strahlt aus ihnen und Mitgefühl. Ich greife nach der dargebotenen Hand, als das Mädchen die Augen aufreißt und mich mit Entsetzen anstarrt. Als ich ihrem Blick folge, lande ich bei meinem weißen Armband. Schnell zieht sie ihre Hand zurück, greift nach ihrem Handgelenk. Ihr Armband hebt sich leuchtend rot von ihrer hellen Haut ab.

      „Du … bist eine von ihnen! Du bist eine Mörderin!“, flüstert sie leise, dreht sich um und rennt. Mein Herz krampft sich zusammen. Was hat das zu bedeuten? Wie kommt sie darauf, dass ich eine Mörderin bin? Ich habe niemandem etwas getan! Ich bin … Mein Blick fällt auf mein Armband und etwas in mir weiß, dass das Mädchen recht hat.


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