Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Gelöscht - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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      „Ist es doch! Nach einem Jahr, wenn wir wieder gesund sind, dürfen wir wieder nachhause. Nicht, dass das hier ein Gefängnis ist.“ Sie lacht laut und fröhlich.

      Für sie ist es also kein Gefängnis? Ich besehe sie mir genauer. Sie wirkt nicht kran. Weswegen sie wohl hier ist? „Wie würdest du das hier dann nennen?“, frage ich.

      Nyks sieht mich verwirrt an, denkt nach und erwidert: „Eine Klinik. Wir sind krank und werden hier geheilt.“

      „Was … was haben wir denn?“

      Wieder überlegt Nyks und sagt dann langsam, zweifelnd: „Ich glaube, ich habe Erinnerungslücken. Irgendetwas ist geschehen … etwas habe ich gemacht … etwas …“ Ihr Gesicht verzieht sich und es wirkt, als hätte Nyks Schmerzen.

      „Alles okay?“, frage ich und sehe mich verzweifelt um. Hilfe kann ich nicht rufen und sie hier alleine zu lassen, erscheint mir nicht richtig. Doch bevor ich in Panik gerate, entspannt sich ihr Gesicht. Ihre Augen werden leer. Das blaue Armband leuchtet kurz auf und verlöscht wieder. Nyks blinzelt, schaut sich verwirrt um, wäscht sich dann langsam die Hände.

      „Nyks? Alles in Ordnung?“

      Überrascht blickt sie mich an und fragt: „Wer bist du? Kennen wir uns?“

      „Entschuldige, ich habe dich verwechselt“, beeile ich mich zu sagen und verschwinde durch die Tür, renne leise zum Ausgang. Ich atme tief durch, krabble auf allen Vieren zur Treppe und komme nach mühevoller Arbeit unten an. Der Weg nach unten ist immer schwerer als nach oben. Warum rollen diese dummen Treppen nur nach oben? Braucht man einen Code, um sie umzuprogrammieren?

      Schnell lasse ich die blaue Folie in meiner geheimen Tasche verschwinden und betrete Ebene Eins. Meine Ebene. Ein neues Bild ist dazugekommen. Ich bin in einem Gefängnis. Ich bin in einer Klinik. Wer auch immer uns hier festhält, kann mit unseren Gehirnen machen, was er will. Erinnerungen selektiert entfernen. Warum sollte man bei einigen nur Teile löschen und bei anderen alles?

      Wenn das hier ein Gefängnis ist und die Löschung eine Strafe, lebe ich unter Schwerverbrechern. Ich gehe die Informationen durch, die ich bisher gesammelt habe. In Ebene Eins sind alle Erinnerungen gelöscht und unsere Farbe ist weiß. In Ebene Zwei kennen die Insassen noch ihre Namen und tragen gelbe Armbänder. In Ebene Drei ist es grün. In der blauen Ebene, Vier, erinnern sie sich noch an ihre Familien. Enttäuschung breitet sich in mir aus. Ich weiß mehr, aber sehr viel weiter bringt mich das nicht. Ich biege um die Ecke und erstarre, als Sunshine mit über der Brust verschränkten Armen vor mir steht.

      Ich werde langsamer, während mein Gehirn auf Hochtouren nach einer Ausrede sucht.

      „Wo warst du, Mo?“

      Ich zucke zusammen, als sie Dannies Spitznamen für mich verwendet. Ich weiß, ich habe Ärger am Hals und ein Teil von mir hofft, alles, was ich in den letzten Wochen gelernt habe, wieder vergessen zu dürfen. Ich öffne den Mund. Doch bevor auch nur ein Laut sich von meinen Lippen lösen kann, dröhnt eine nie gehörte tiefe Stimme hinter mir: „Sie war bei mir, Mutter Sunshine. Ich hatte sie gebeten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Ihre Gehirnwindungen sind außergewöhnlich.“

      Sunshine reißt die Augen auf und … macht einen Knicks? Vollkommen verwirrt drehe ich mich um und sehe einen komplett in schwarz gehüllten Mann vor mir. Seine dunklen Augen fixieren mich und ich presse die Lippen aufeinander.

      „Ich wusste nicht, dass Ihr hier seid, Cailan Cherub.“

      Ein Lächeln schmückt das ungewohnt kantige Gesicht. Der Mann macht eine Handbewegung und sagt: „Noch bin ich kein Cherub. Meine Ausbildung ist nicht abgeschlossen. Nennt mich einfach Cailan, Mutter Sunshine!“

      „Wie Ihr wünscht, … Cailan.“

      „Ich übergebe … Mo … wieder Euren fähigen Händen. Würde sie jedoch mit Eurer Erlaubnis morgen um dieselbe Zeit noch einmal … untersuchen wollen.“ Sunshines Blick fixiert mich, wandert meinen Körper entlang.

      „Wie Ihr wünscht, … Cailan.“

      „Sehr schön. Also Mo, morgen, selbe Zeit, selber Ort.“

      Ich nicke und zwinge mich ruhig zu atmen.

      Sunshine verneigt sich, als der Mann in Schwarz uns den Rücken zukehrt und verschwindet. Ihre Augen tasten mich wieder ab. Sorge liegt in ihrem Blick. „Hat … er … hat man dir wehgetan?“, fragt sie und presst die Lippen aufeinander.

      Ich schüttle vorsichtig den Kopf. Noch nicht. Noch hat man mir nicht wehgetan. Doch Sunshines Sorge und ihre Worte schneiden mir ins Fleisch und die Wunde brennt, bevor sie blutet. Was wird mich morgen erwarten? Ich bin kurz davor Sunshine zu fragen. Doch das hätte schwerwiegende Folgen. Ich habe die Wahl zwischen Pest und Cholera. Eine Erinnerungslöschung mit etwas abzuwiegen, das man nicht kennt, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Also presse ich die Lippen aufeinander und schlottere innerlich dem Morgen entgegen. Was will der Mann von mir, den Sunshine Cailan Cherub nennt? Was ist ein Cherub? Ich zittere und Sunshine nimmt mich in den Arm.

      „Es tut mir so leid, Mo. Ich bin machtlos. Ich kann dir nicht helfen. Vielleicht … wenn du tust, was er dir sagt, hat er bald genug von dir. Und wenn du es wünscht, können wir danach alle schlimmen Erinnerungen löschen und du wirst wieder weiß sein, neugeboren und unschuldig.“ Dann dreht sich Sunshine um und geht. Lässt mich alleine mit meiner Angst zurück.

      Sie wächst, wird immer schwerer und drückt mich in die Knie. Tränen treten mir in die Augen. Was wird mit mir geschehen? Was wird er mit mir machen? Was kann so schlimm sein, mich so beschmutzen, dass ich gelöscht werden muss, um wieder rein zu werden? Ich bin nicht rein. Doch das weiß Sunshine nicht.

       Ich lüge.

       Ich bin egoistisch.

       Ich giere nach Information und Freiheit.

       Ich habe das Wir aus den Augen verloren und denke nur an mich.

      Und das innerhalb von wenigen Wochen. Ist das, was morgen kommen wird, meine Strafe? Werde ich weiter beschmutzt, weil ich mich nicht habe reinhalten können?

      Fragen schwirren in meinem Kopf, als ich zu meinem Quartier wanke, mich in mein Bett fallen lasse und mich in meine Decke wickle. Ich bin müde, doch der Schlaf wird mich diese Nacht meiden. Da bin ich mir sicher, auch wenn ich gerade an allem anderen zweifle.

      Der Moment ist da und ich weiß nicht, wo ich hin soll. Morgen, selbe Zeit, selber Ort, hat er gesagt. Mir fallen drei Orte ein. Das Labyrinth, die vierte Ebene oder hier im Reich des Glases, wo Sunshine uns gefunden hat. Ich wähle das Labyrinth in der Hoffnung, dass ich mich irre und er mich nicht findet. Er hält meine Erinnerung in seinen Händen, mein Wissen. Und laut Sunshine wird er sich meine Reinheit als Pfand für beides nehmen. Doch wie? Meine Fantasie weigert sich mir Möglichkeiten aufzuzeigen.

      Verloren stehe ich im gläsernen Kubus da und sehe zum ersten Mal, wie sich der Boden öffnet und zwei weißgekleidete Gestalten hervortreten. Eine ältere Frau mit Adleraugen und eine junge, die sich ängstlich umblickt. Die Treppen sind nur für die Neugeborenen und Novizen gedacht. Doch ein Blick zeigt mir, dass sie nicht wie ich ist. Ihr Armband ist grün. Und ich blicke neidisch weg.

      Die Mutter kommt auf mich zu und fragt gebieterisch: „Was suchst du hier?“

      Ihre Augen wirken grausam, ihre Haltung strahlt Härte aus und ich bin zum ersten Mal dankbar, dass es Sunshine war, die mich geholt hat.

      „Sie wartet auf mich.“

      Die strenge Mutter neigt sofort den Kopf, macht einen Knicks und zerrt die Novizin an der Hand fort. Sie steigt auf eine Treppe, von der ich weiß, dass es die falsche ist.

      „Sie werden umkehren müssen“, sagt der Mann, der mich beschmutzen wird.

      Ich drehe mich um und starre in seine dunklen, fast schwarzen Augen.

      Er beugt sich zu mir herunter und flüstert: „Aber das weißt


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