Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

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      wird in einem Herzschlag zu –

       Ich lüge.

      Ich kann körperlich spüren, wie die Wahrheit aus mir fließt und die Lüge von mir Besitz ergreift. Es ist nur ein Korn, verglichen mit dem Sand in einem Stundenglas. Doch die Lüge frisst sich langsam an der Wahrheit satt, bis sie alles verseucht hat.

      Sunshine drückt mir einen Kuss auf den Scheitel und lässt uns allein.

      So allein man in einem gläsernen Käfig sein kann. Ich erschrecke über meinen Gedanken. Das hier ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren, nicht eingesperrt.

      Zweifel nagt an mir, als meine Augen Dannies Gesicht suchen. Darf die Wahrheit einem Versprechen geopfert werden? Wie weit kann ich gehen, um ein Versprechen zu halten, an dem meine erste Freundschaft hängt?

      Etwas Dunkles in mir wird geboren. Ich kann es fühlen. Die reine Liebe, die ich seit dem ersten Lächeln für Dannie gespürt habe, wird trüb. Ein Schatten legt sich über sie. Was ist es? Ich grüble, forsche und analysiere.

      Als ich zu einem Ergebnis komme, hüpfe ich entsetzt vom Bett, entferne mich von Dannie. Doch das Gefühl bleibt. Ich mache Dannie Vorwürfe. Ich bin ihr böse, weil sie mich in diese Situation gebracht hat. Sie ist schuld am Tod meiner reinen Wahrheit. Ich habe zum ersten Mal gelogen und fühle mich schmutzig.

      Dannies Gesicht verzerrt sich. Sie wirft den Kopf hin und her. Schweiß tritt auf ihre Stirn. Ich schiebe die negativen Gefühle beiseite, nehme ihre Hand und streichle über ihren Kopf.

       Ich helfe mit Freuden.

      Kann ich nicht mehr sagen.

       Ich helfe aus Pflichtgefühl.

      Reicht das? Oder habe ich noch einen Teil meiner Reinheit verloren? Bin ich das schwarze Schaf in einer weißen Herde? Ich schäme mich, weil ich Dannie die Schuld gebe und kann doch nicht anders. Bin ich ein schlechter Mensch? Am liebsten würde ich mich auch in mein Bett verkriechen und die Decke über den Kopf ziehen. Mein hässliches Ich vor der Welt verstecken.

      Die Tage kommen und gehen. Dannie wird immer blasser. Ihr bereits schlanker Körper schrumpft, die Schatten unter ihren Augen werden tiefer. Ich frage nicht mehr, woran sie sich erinnert. Fadenscheinig kann ich es Rücksicht nennen. Aber ich weiß es besser. Ich kenne meine dunklen Gefühle. Ich möchte es nicht wissen. Ich will nicht noch mehr lügen.

      Eines Nachts wird es so schlimm wie nie. Dannie wirft sich hin und her, schreit. Als ich sie wachrüttle, schlägt sie um sich, flucht, wie ich es noch nie zuvor gehört habe.

      „Dannie, bitte, komm zu dir! Ich will dir nur helfen.“

      Die anderen schrecken ebenfalls hoch. Sie starren uns einfach nur an, rühren keinen Finger.

      Diese verfluchten, gefühllosen Roboter, denke ich und stelle entsetzt fest, dass dieser Gedanke mir nicht neu ist, dass er von Anfang an in mir gelauert hat, um zum richtigen Zeitpunkt an die Oberfläche zu preschen.

      Und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Zeitpunkt für negative Gefühle wie Zweifel, Ärger, Unsicherheit. Ich fühle mich wie an dem Tag meiner Wiedergeburt. Einsam und unsicher. Ängstlich und zweifelnd. In einem Moment zerbricht mein sicherer Hafen, meine Hoffnungen und Träume auf eine ideale Zukunft. Der Traum von einer perfekten Gemeinschaft zerbricht an mir selbst. Wie kann ich nur so willensschwach sein?

      „Nein! Sie wollen mir alles nehmen. Das Bisschen, das ich habe, wollen sie mir wegnehmen!“, schreit Dannie. Meine süße Dannie verzieht das Gesicht in Hass, Wut und Angst. Als hätte sich ein Monster in sie geschlichen und alles aufgefressen, was ich an ihr schätze. Ihre Lebensfreude, die Leichtigkeit ihres Lächelns und die Fröhlichkeit ihres Lachens. Es ist so einfach einen positiven Menschen zu mögen, sich mit ihm zu umgeben und sich von seinem Licht zu nähren. Doch wie soll ich ein Monster in meinem Herzen toben lassen? Es wird mich von innen heraus zerfetzen.

      Dannie bäumt sich auf, ich nehme sie gewaltsam in meine Arme, versuche an meinen Gefühlen festzuhalten, in dem keifenden Wesen, das nach mir schlägt, meine Dannie zu sehen. Ihr Körper ist schwach, sie kann sich nicht lange wehren, liegt zitternd in meinen Armen und ich treffe eine Entscheidung.

      „Holt Sunshine!“, sage ich zu niemand bestimmten.

      Werden die Apathen reagieren? Mehr tun, als einfach nur zu existieren, und endlich handeln? Können sie Befehle ausführen? Ein hässlicher Gedanke kommt mir: Gibt es Rettung für leere Geister, die über ein Jahr nur Wärme, Licht und Liebe erfahren haben und doch nicht wachsen? Ich schrecke vor dem Gedanken zurück, als hätte ich mich verbrannt. Sie sind hilfsbedürftig, sie brauchen Zuspruch und Führung.

      Bevor ich mich in meine Negativität steigern kann, kniet Sunshine neben Dannies Bett.

      „Was ist nur los mit Dannie?“, fragt sie voller Sorge und ich würge die Wahrheit aus mir heraus: „Sie erinnert sich.“ Alle Farbe weicht aus Sunshines Gesicht und sie befielt in einem harschen Ton, den ich noch nie bei ihr gehört habe: „Raus! Alle raus!“ Die Mädchen eilen zur gläsernen Tür. Ich will aufstehen und ebenfalls gehen, aber Sunshine sagt: „Du bleibst hier, Oktober Montag!“ Ich verharre. Als die anderen alle draußen sind, drückt Sunshine etwas an ihrem Armband, das rot pulsiert und die Welt um uns herum wird schwarz.

      Angst füllt mein Herz, als zusätzliche Lampen angehen. Es dauert, bis mein Gehirn versteht, was passiert ist. Die Glaswände haben sich verdunkelt, wie in den Badezimmern. Sie riegeln die Krankheit ab! Werden sie die verseuchten Zellen mitsamt Arm amputieren? Sorge webt ihr giftiges Netz um mein Herz. Bin ich Teil des Geschwüres? Wird man auch mich entfernen?

      Männer in schwarzen Anzügen betreten den Raum, reißen mich von Dannie weg. Seit meiner Wiedergeburt sind es die ersten männlichen Wesen, die ich sehe und sie machen mir Angst. Ihre Gesichter sind ausdruckslos, wie die der anderen. Sie sind grob und kräftig. Ihre Hände tun mir weh.

      Ich habe nichts Falsches getan, will ich schreien und weiß es doch besser.

      „Bringt Oktober in den Verhörraum! Dannie ins Labor!“ Die Männer hören auf Mutter Sunshine, packen Dannie an Armen und Beinen, schleppen sie zur Tür.

      „Nein!“, schreit Dannie. Ihre Stimme schneidet wie Messer in mein Fleisch.

      „Du hast es versprochen, Mo! Du hast versprochen, es niemandem zu sagen!“ Sie tritt um sich. Dann trifft mich ihr Blick und sie wird ruhig. Das letzte, was ich höre ist: „Sie werden mich wieder töten und es ist deine Schuld, Mo.“

      Ich zittere. Ich bin erleichtert. Ich habe die Wahrheit wieder. Doch der Moment des Glücks hält nicht an. Mir wird klar, dass ich Sunshine die Wahrheit nicht um Dannies Willen gesagt habe. Purer Egoismus war mein Führer. Ich wollte die Schuld los werden, das schlechte Gewissen.

      Die Tür öffnet sich und anstatt in eine Welt aus Glas, starre ich auf schwarze Wände. Schwarz, die Farbe der Trauer. Ich heule auf. Etwas pikst mich im Nacken und die Welt wird dunkel, wie mit Ruß bemaltes Glas.

      Als ich zu mir komme, schmerzt mein Kopf. Ich bin an einen Stuhl gefesselt. Wie am Tag meiner Wiedergeburt, saugen sich Elektroden in mein Hirn. Ein Scheinwerfer blendet mich. Ich höre das Rascheln von Kleidung.

      „Mutter Sunshine?“, krächze ich. Wo ist meine Sicherheit? Wo ist meine ideale Welt? Ich bin im freien Fall und suche nach einem Netz, das mich auffängt. Wird Sunshine mich auffangen oder auf der kalten Erde zerschmettern lassen?

      „Ich bin hier, meine Tochter“, erwidert sie mit kalter Stimme. Alle Wärme ist verschwunden. Was habe ich nur getan?

      „Was passiert mit Dannie? Wo hat man sie hingebracht?“, frage ich und kneife die schmerzenden Augen zusammen.

      „Wir kümmern uns um Dannie. Es wird ihr bald wieder gut gehen. Doch jetzt solltest du an dich denken.“

      Ich huste.

      „Wie lange weißt du, dass sie sich erinnert?“ Es ist Sunshines Stimme und doch nicht. Sie ist bar jeder


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