Gelöscht - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider
weg. Cailan wird wieder ernst und sagt: „Ich beantworte dir alle Fragen, soweit ich kann, wenn du deine Aktionen fürs erste einstellst.“
Ich schürze die Lippen und frage: „Woher weißt du, was ich getan habe?“
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ihr nicht beobachtet werdet?“
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und erwidere kalt: „Wir beobachten uns gegenseitig, nichts bleibt ungesehen in einer Glas-Welt. Nur ein schizophrener Neurotiker würde noch Kameras installieren.“ Oder ein Spanner, fügt mein Gehirn hinzu und ich beobachte skeptisch Cailans Reaktion.
Mein Argwohn wird jedoch von seinem Lachen hinweggefegt. Dann legt er seinen Kopf schief und seine Augen bohren sich in meine. „Wenn du schon so schlagfertig und feurig bist, ohne jede Erinnerungen, wie warst du dann früher?“
Es ist eine grausame Frage und ich schlucke Tränen hinunter. Glaube kurz Befriedigung in seinen Augen zu sehen. Oder etwas, das Befriedigung sein könnte. Mein Gehirn kann die Bedeutung dieses Wortes noch nicht vollkommen fassen. Verzweifelt blinzle ich die Tränen weg.
„Was willst du von mir?“, frage ich mit einem Kloß im Hals.
„Das ist eine schwierige Frage. In erster Linie wäre Dankbarkeit nicht schlecht. Es war wirklich nicht einfach alle Kameras auf mein System umzuleiten. Und beinahe wäre gestern alles aufgeflogen. Du kannst dir sicher vorstellen, was die Folgen gewesen wären?“
Ich schlucke und nicke langsam. Doch anstatt einem Danke prescht eine Frage aus mir heraus: „Warum deckst du mich?“ Seine Augen blitzen gefährlich auf.
Er überlegt eine Weile, während ich die Luft anhalte, und erwidert dann: „Es muss die Langeweile sein. Immer der gleiche Trott … und dann kamst du. Für eine White sind deine Gehirnaktivitäten außergewöhnlich. Und das Interessante sind deine Handlungen. In all der Zeit, in der diese Anstalt existiert, hat noch niemand gewagt, was du getan hast. Vielleicht nicht einmal daran gedacht. Weißt du, was man den Menschen nimmt, wenn man ihre Erinnerungen löscht? Den Willen und den Glauben. Es ist faszinierend, wie schnell intelligente Wesen sich nur auf ihre Urbedürfnisse konzentrieren, wenn man ihnen ihre Erfahrung wegnimmt.“
Wut kocht in mir auf. Die Worte sind nicht bösartig, klingen nach mit Neugier und Begeisterung. Und das macht es um so viel schlimmer. Ich will weinen, schreien, ihn wieder ohrfeigen. Doch alles was aus mir herausbricht sind geflüsterte Worte: „Wir sind Menschen. Was wir auch getan haben, sind wir doch Menschen.“ Ich bin keine Laborratte! Ich bin ein Mensch, eine Frau.
„Entschuldige! Natürlich hast du recht. Man vergisst das schnell, wenn man nur digitale Zahlen, Worte und Bilder analysiert“, erwidert Cailan schnell.
Zu schnell. Kann in so unbedachten Worten Wahrheit liegen? „Tust du das? Uns analysieren?“, frage ich und lauere wie eine Klapperschlange auf jede Information, die er mir unwissentlich preisgibt. Denn etwas in mir sagt, dass nur diese Wert haben. Dass ich nur diesen trauen kann. Wo kommt dieser Argwohn her? Wieso kann ich ihm nicht vertrauen? Und eine leise Stimme in mir flüstert mir die Antwort zu, die mein Herz schon kennt: Lügen und Halbwahrheiten. Menschen sprechen selten die Wahrheit. Selbst in dieser fadenscheinigen Welt, in die ich geworfen wurde, die in der ersten Strophe ihrer Hymne die Wahrheit besingt, ist voller Lügen, Schatten und Geheimnisse. Mein Herz blutet bei dem Gedanken, dass es eine Welt, wie ich sie mir erträumt habe, nirgendwo gibt.
„Ich analysiere dich. Und finde immer mehr Fragen als Antworten“, sagt Cailan und ich glaube ihm.
„Viel kann ich dir nicht sagen. Aber ich werde deine Fragen, so gut es geht, beantworten, wenn du meine beantwortest.“ Was erhoffe ich mir? Mehr Lügen und Halbwahrheiten?
Ich habe nichts zu bieten und dennoch willigt Cailan ein: „Okay. Ladies first. Du darfst anfangen.“ Ich öffne den Mund und schließe ihn. Tausende Fragen schießen mir durch den Kopf.
Sind wir ‚White‘ wirklich Schwerverbrecher? – Was habe ich getan?
Wo bin ich hier? – Wo komme ich her? – Was wird mit mir passieren?
Wie komme ich hier raus? – Was ist da draußen?
Wer bin ich? – Wer war ich? – Wer kann ich werden?
Habe ich eine Zukunft, wenn ich keine Vergangenheit habe?
Wie heiße ich? – Wie ist der Name meiner Eltern?
Kleine Fragen, die, selbst wenn Cailan sie beantworten kann oder will, nichts ändern. Was ändert das Wissen, wenn die Erinnerungen nicht wiederkehren? ALLES, schreit eine Stimme in mir. Es ändert alles! Und doch ist es eine andere Frage, die ich stelle.
„Wer bist du und was ist deine Rolle im System?“ Zwei Fragen. Ich habe zwei Fragen gestellt. Wird er sie mir beantworten?
Er scheint überrascht.
„Ich hätte eher gedacht, dass du Fragen über dich selbst stellen wirst.“
Ich blicke ihn nur stumm an, doch die Hoffnung keimt. Tragen seine Worte eine tiefere Bedeutung? Weiß er etwas über meine Vergangenheit?
„Mein Name ist Cailan van Matthews.“ Er macht eine Pause, beobachtet meine Reaktion.
Aber ich höre den Familiennamen zum ersten Mal. Cailan sieht enttäuscht aus, fährt jedoch fort: „Ich durchlaufe die Ausbildung zum Cherub. Was bedeutet, dass ich in jeder Abteilung dieser Anstalt für drei Monate arbeite. Wenn ich alle Prozesse beherrsche, bin ich befugt Anstalten wie diese zu leiten.“
DIESE Anstalt. Es gibt also mehrere. Das heißt, es gibt ein System außerhalb dieses Kubus‘. Eine Welt außerhalb dieses Apparats. Ich öffne den Mund, um mehr Fragen zu stellen. Ich brauche mehr Informationen. Details. Es ist ein Drang, der mich zerstören wird, wenn ich ihn nicht befriedige. Und plötzlich, in dem Moment eines Herzschlags, ergibt das Wort ‚Befriedigung‘ einen Sinn. Wir werden von dem Drang geleitet, Bedürfnisse zu befriedigen. Der Treibstoff, der mich handeln lässt, ist das Bedürfnis zu wissen. Ich brauche Informationen wie Sauerstoff zum Atmen.
„Ich bin dran!“, unterbricht mich Cailan in meinen Gedanken, „wie war es für dich, als du zum ersten Mal erwacht bist?“ Bevor ich antworten kann, fügt er hinzu: „Ich kenne die Aufzeichnungen. Ich weiß, wie du dich verhalten hast. Aber wie hast du dich gefühlt?“
Ich blinzle. Denke nach. Was habe ich gefühlt? „Ich … ich war durstig. Ja, Durst war das erste, was ich verspürt habe. Ich wollte Wasser und war überrascht, dass ich wusste, was Wasser ist. Ich … ich konnte sprechen, wusste aber nicht, wer oder was ich bin. Plötzlich war ich einfach.“ Wir sitzen immer noch auf dem Boden und ich ziehe die Beine an meine Brust, umschlinge sie fest und will das Glitzern in Cailans Augen nicht sehen, als er fragt: „Hattest du Angst?“
Ich habe zwei Fragen gestellt, ich schulde Cailan zwei Antworten. Also denke ich nach und schüttle langsam den Kopf, rede mir ein, dass es keine Enttäuschung ist, die sich wie ein Schatten über sein Gesicht legt. „Ich … ich kenne das Wort ‚Angst‘. Die Bedeutung ist mir klar. Aber es braucht Zeit, eine Situation. Ich … ich muss sie empfinden, um sie wirklich zu begreifen.“
Und etwas rührt sich in meiner Brust, als Cailans Lippen leicht nach oben zucken. Ist das Angst? Ich schließe die Augen und suche nach der nächsten Frage, die mir weiterhelfen kann das zu bekommen, was ich brauche.
„Wie und wo werden die Erinnerungen der Insassen gespeichert?“ Wird Cailan mir diese Frage beantworten? Was bezweckt er, warum unterhält er sich mit mir?
„Wer sagt, dass die Erinnerungen gespeichert werden?“
Ich denke an das saugende Gefühl in dem Befragungsraum, als man mein Gehirn durchforstet hat. Meine Frage beruht auf einem Gefühl, der Vorstellung, dass die Erinnerungen nicht zerstört, sondern herausgesaugt werden. Auf einen anderen Datenträger übertragen. Vielleicht irgendwann überschrieben, gelöscht. Doch etwas sagt mir, dass eine Verwahrung mehr Sinn macht, wenn sie analysieren