Schwarzer Freitag. Peter Schmidt
durchs hohe Unkraut nicht hören konnte:
"Hallo Alter, wie wär's denn mit uns beiden? Ein paar flotte Minuten im Kartoffelkeller gefällig? Müsste mal wieder meine Kasse aufbessern. Die Eintrittspreise in eueren verdammten Vorort-Diskos sind ja kaum noch zu bezahlen."
Ich horchte so ungläubig dem Klang ihrer Worte nach, als ertöne Marias Stimme vom Nebenaltar (obwohl das für einen evangelischen Christen keinen allzu großen Stellenwert haben sollte.)
"Hat's dir etwa die Sprache verschlagen? Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe ..."
Sie hob ihre Schätze, zwei volle Hände. Es waren glatte weiße Jungmädchenbrüste, und mir rutschte vor Verblüffung der Heidegger ins Gras.
"Deine Frau schrubbt gerade wieder mal die Küche, und mein alter Herr wird sich jetzt ins Haus verdrücken, um die Goldfische im Weiher auszusetzen."
"Haben Sie denn gar keinen Freund, der Sie in die Disko einladen könnte?"
"Was denn, nur einen Freund? Ich bin ein Mädchen, das auf mehr als einer Flöte bläst, falls dir das was sagen sollte. Las uns hier verschwinden und schenk mir ein paar klitzekleine Ohrringe."
"Und wohin, wenn ich fragen darf?"
"Am Bahnhof gibt's ein hübsches kleines Stundenhotel mit Hintereingang."
Ein Angebot, wie dazu geschaffen, um mir in meiner beruflichen Stellung Läuse in den Pelz zu setzen. Aber ich sagte mir, dass ich schon viele junge Menschen auf den rechten Weg zurückgebracht hatte, und dieses Mädchen hatte es sicher bitter nötig.
Wenn ich ihr jetzt einen Korb gab, würde vermutlich ein anderer an meine Stelle treten. Aids, Schwangerschaft, Suizidgefahr.
Die Zahl möglicher Nachrücker aus den freudlosen Wohnsilos der Umgebung lag nahe bei unendlich.
"Na, wie steht's denn mit uns beiden?"
Ihre Stimme war so scharf und schneidend, dass der alte Schitteck, der eben eine volle Zinkwanne aus dem Haus trug, sich angesprochen fühlte und mit zahnlosem Mund herüberrief: "Ich setze Zappel und Wuddi gerade am Nordufer aus, Dagmar."
"Hab verstanden, Paps ... und pass gut auf, dass Wotan Zappel keine Kinder macht."
Xaveria erschien wegen des Lärms am Fenster und warf einen argwöhnischen Blick auf mich und das Walnussgehölz. Glücklicherweise waren die Kronen so dicht, dass sie ihr den Blick auf Schittecks brünstige Tochter versperrten.
Ich winkte Xaveria zu, und sie winkte dank dieser unerwarteten Liebesbezeigung verhalten zurück.
"Dein Heidegger ist ins Gras gefallen", rief sie herunter.
"Ja, ich weiß."
"Las dich doch vom Eierhändler bespringen", wisperte Dagmars böses Stimmchen hinter der Mauer.
"Der Eiermann ist im Urlaub", rief Xaveria, die Behinderte, die Schwerhörige. "Wenn du zum Abendbrot Eier willst, musst du dir welche im Konsum besorgen."
Hinter mir antwortete ein wasserhelles Kichern.
Ich sagte: "Nein, danke, hab's mir anders überlegt. Wahrscheinlich werde ich heute Abend fasten."
"Du wirst dich noch wie ich zu Tode hungern."
"Jesus hat in der Wüste vierzig Tage gefastet, und es hat weder ihm noch seiner Sekte irgend etwas anhaben können."
"Du und dein religiöser Tick", erwiderte sie und schlug das Fenster zu. Sie war eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realitäten stand (wenn diese Beine nicht gerade wegen exzessiven Fastens ins Zittern gerieten).
Dass sie ausgerechnet einen evangelischen Philosophielehrer geheiratet hatte, konnte ihr nur in einer Lebensphase jugendlichen Leichtsinns und romantischer Umnachtung unterlaufen sein. Heutzutage hätte sie sicher einen Schlossermeister vorgezogen, der um Mitternacht aufstand, um tropfende Wasserhähne zu reparieren.
Oder einen Anstreicher, der ihr zweimal im Monat das Haus tapezierte.
Wahrscheinlich würde sie einen hysterischen Schreikrampf bekommen, wenn sie das schmutzigbraune Feuchtbiotop der Schittecks entdeckte. Aber da ihr Blick niemals die Grenze unseres Gartens zu überschreiten pflegte, war die Gefahr gering.
Sie war wie jemand, der nicht über den Rand seiner ganz privaten kleinen Welt hinauszublicken vermochte, es sei denn, als für die Schule aufbereitete "Lehreinheit".
"In fünfzehn Minuten an der Bushaltestelle", sagte ich über die Mauer. Es gab Seelen, die gerettet werden wollten, und andere, bei denen jeder Versuch vergeblich sein würde. Jesus oder Ludwig Wittgenstein stehe mir bei.
3
Wenn keine besonderen Gründe (Schwangerschaften, lebensbedrohliche Krankheiten) dagegen sprachen, begann der Tag der Schittecks gewöhnlich mit Sirenengeheul – einem auf- und abschwellenden Ton wie beim Luftalarm.
Dagmar hatte mir anvertraut, dass dieser nervenaufreibende Lärm der einzige Schachzug sei, ihre Familie vor dem Mittagessen aus den Betten zu treiben. Angesichts einer Welt, deren Sinn sich dem Wachen immer mehr verschließt, vielleicht gar keine schlechte Methode, um dem Schicksal eins auszuwischen.
Möglicherweise ahnten oder witterten die Schittecks auch schon wie Tauben und Katzen beim Erdbeben den kommenden Weltuntergang – die Endzeit, die für weniger medial begabte Gemüter leicht am Treibhauseffekt, an der Zunahme der UV-Strahlung, der Verseuchung des Grundwassers und dem Anstieg der Ozeane abzulesen ist.
Als Beweis für die medialen Fähigkeiten der Schittecks brauchte man sich nur unsere Telefonverbindungen anzusehen.
Jeder normale Mensch greift bei so erbarmungslosen Ruhestörungen sofort zum Hörer, um Anzeige zu erstatten. Aber die Leitungen waren während ihres Sirenengeheuls tot.
Klein, der an Herzasthma leidet, gab nach drei Versuchen auf, und ich selbst konnte seine Beobachtung nur bestätigen, weil ich der Sache schon aus beruflichem Interesse an jeder Art von okkulten Phänomenen nachging.
Jesus' Gang über den See Genezareth erscheint mir immer noch als eine der großen paranormalen Leistungen des Altertums. Kaum war der Lärm verstummt – und die Beweislast auf Seiten der Kläger –, funktionierten auch die Telefone wieder.
Mag sein, dass die Störung eine völlig natürliche Ursache hatte und die Vibrationen ihrer Weckmethode bloß ein Relais im Schaltkasten außer Gefecht setzten. Um so erstaunlicher bei diesem Ruhebedürfnis, dass eines Morgens die älteste Tochter der Schittecks an meiner Haustür läutete.
Xaveria befand sich gerade wegen ihrer nervösen Anfälle zur Beobachtung im Krankenhaus, deshalb nahm ich an, es sei etwas Unvorhergesehenes passiert. Um vier Uhr morgens würde ich unter normalen Umständen niemandem öffnen.
Dass ein Mitglied der Schitteckfamilie so früh wach sein könnte, lag jenseits meiner Vorstellungskraft.
Tanja hatte einen Strauß lilafarbener Rosen mit grünen Einsprengseln mitgebracht. Ein Anblick, der das Herz jedes Kenners höher schlagen lässt, denn diese Variante ist äußerst selten und besonders kostbar.
Nach langem Suchen war es mir endlich gelungen, die Wahrheit der alten Blumenzüchter-Legende zu beweisen, dass solche Farbschattierungen genetisch überhaupt möglich sind. Sie wuchsen ganz ohne unser Zutun (sieht man einmal von der Bodenstrahlung und den Schadstoffen ab) in einer Grassenke oberhalb der "kleinen Grotte" von BIO-ZWEI, und als ich sie eines Morgens bei einem Spaziergang entdeckte, war es, als wohnte ich einem der großen Wunder der Schöpfung bei ...
Seitdem hütete ich fünf Exemplare in dem winzigen Experimentaltreibhaus unseres Gartens, das sonst der genetischen Rekonstruktion von Urpflanzen dient.
Allerdings muss ich gestehen, dass mich die Frage, ob Tanja denn nun wirklich auf den Strich ging (wie seit ihrem Einzug im Viertel gemunkelt wurde), momentan mehr beschäftigte als alles andere. Deshalb klang ihre Stimme Welten entfernt, als sie sagte:
"Im