Ssabena - Wilde Wege zum Seelenheil. Imme Demos
in Kontakt mit diesen Wellen, die durch mich hindurch bis ins Weltall reichen, deren Teil ich bin. Singen half mir, menschenleere Flure und Treppenhäuser zu überstehen, aber auch mich inmitten von vielen Menschen zu spüren. Musik machen verbindet den Menschen mit seinem Körper, seinem Geist und seiner Seele. Das war mir nicht bewusst, ich sang intuitiv.
Während eines Frühlings prangten an jeder Bushaltestelle der Stadt Plakate einer Parfumwerbung, auf denen eine Schlange um einen schönen Frauenhals lag, die nach vorne aus dem Bild herausschaute. Eine Schlange auf einem Foto zu sehen, ließ in mir ein extremes, unkontrollierbares Gefühl entstehen, als würde etwas aus meinem Körper extrahiert werden, sodass er sich zusammenzieht, bis sich die Kopfhaut kräuselt. Setzt der Schmerz ein, schüttelt er sich, lockert sich, verkrampft sich wieder bis an die Schmerzgrenze und schüttelt sich erneut, immerzu hin und her. Ich erklärte mir selbst, das sei Ekel, unaussprechlicher Ekel. Natürlich versucht man, solchen Phänomenen aus dem Weg zu gehen. In jenem besagten Frühling gelang es mir nicht, mit dem Fahrrad an den Schlangenplakaten vorbeizufahren. Ich nahm das Auto und verachtete mich dafür.
Doch selbst beim Autofahren bekam ich Angst. Vor dem, was sich unter meinem Sitz hervorwindet und vor der eisernen Faust, die hinterrücks meinen Nacken umschließt. Für den Verkehr blieb nur wenig Aufmerksamkeit übrig. Hatte ich versehentlich mal keine Angst, merkte ich nichts, fuhr abwesend und wunderte mich, wie ich von A nach B gekommen bin.
So konnte es nicht weitergehen. Die Ängste hinderten mich dermaßen an einem normalen Leben, dass ich mich entschied, ihnen die Stirn zu bieten. Um mich selbst anerkennen zu können, entwickelte ich eine Strategie: Alleine etwas unternehmen und es überleben!
Eine Seereise schien das Richtige zu sein, allein, aber mit anderen Menschen an Bord. Bei einer Schifffahrtsgesellschaft heuerte ich an.
Anstatt für meine Passage zu zahlen, arbeitete ich täglich acht Stunden an Bord, Offiziersmesse schrubben, in der Kombüse helfen, abwaschen, auf- und abdecken. Ich bediente die sieben deutschen Offiziere, in deren Händen die Leitung des Frachters lag. Der Koch, seine Frau und die einundzwanzig Matrosen waren, welch glücklicher Zufall, Sizilianer.
Diese Gelegenheit, von meinen Landsleuten ihre Sprache zu lernen, nutze ich. Mit dem Matrosen Antonio saß ich Abend für Abend an Deck, schaute über den Atlantischen Ozean bis zum Horizont und prägte mir ein sizilianisches Wort nach dem anderen ein. Die endlose Weite beruhigte mein rastloses Gemüt. Das schwimmende Gefängnis, von dem es kein Entrinnen gab, wurde zum goldenen Käfig. Umgeben von meinen Sizilianern, der Sonne, die jeden Tag heißer brannte, dem Meer, dem riesigen Himmel, den Sternen, die nachts zum Greifen nah waren, und meiner Kajüte, in der ich alleine schlief ohne Angst, war ich sehr stolz auf mich, dieses Abenteuer gewagt zu haben. Seltsamerweise spürte ich in der endlosen Weite des Meeres mehr Nähe als mitten unter Menschen.
Die Seereise führte mich an die Ostküste Brasiliens in die Hafenstadt Santos, unter Seeleuten ebenso legendär wie die Hamburger Reeperbahn.
„Die Prostituierten hier“, klärte der Chef-Ingenieur mich auf, „wissen genau, wann welches Schiff in den Hafen einläuft und welche Seemänner es mitbringt. Hat sich ein Seebär für eine der Ladies entschieden, ist sie ihm während seines Aufenthaltes nicht nur treu, sondern steht an seiner Seite wie eine Ehefrau, kocht ihm gutes Essen, sorgt sich um sein Wohl. Dafür erwartet sie, dass er jedes Mal zu ihr kommt, niemals zu einer anderen. Das ist ungeschriebenes Gesetz. Keine würde es wagen, mit dem Mann einer anderen auszugehen. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel.“
Der Chief, wie ihn alle nannten, nahm mich sogar mit zu seiner Dame nach Hause. Bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen staunte ich über ihr gepflegtes Englisch.
Natürlich schickten die Männer ihren Auserwählten auch von unterwegs etwas Geld. Einige der Frauen warteten darauf, irgendwann mit in die reiche, westliche Welt genommen zu werden und ein neues Leben zu beginnen. Die Verschworenheit unter ihnen faszinierte mich und ich sollte sie noch genauer kennenlernen.
Antonio lud mich zum Landgang mit den Matrosen ein. In lauer Abendluft fuhren uns zwei Taxis zu einem Tanzlokal, wo wir an einem der großen Tische Platz nahmen. Grünes Schummerlicht beleuchtete die Bar. Die Musik dröhnte. Antonio legte seinen Arm hinter mich auf die Rückenlehne der Sitzbank. Caipirinhas wurden gebracht. Ich verschwand Richtung Damentoilette.
Plötzlich baute sich eine Schwarzhaarige vor mir auf, blitzte mich wild gestikulierend aus feurigen Augen an. „Homem com barba e mina“, rief sie wütend, malte mit zwei Fingern einen Bart um ihren Mund, „homem com barba e mina, mina!“
Meinte sie Antonio? Ihr Zorn machte mir Angst. Ergeben hob ich die Hände, wendete mich um und flüchtete klopfenden Herzens zu meinem Begleiter. Außer mir vor Erregung versuchte ich, ihm die Begegnung zu beschreiben, er aber beschwichtigte. Zielstrebig sah ich die Frau zu einer Kollegin laufen. Nach kurzem, ungestümem Wortwechsel zeigte sie mit dem Finger auf mich. Die zweite Frau drängelte sich durch die Menge an die Bar zu einer dritten, flüsterte ihr ins Ohr. Beide schauten zu mir rüber. Die dritte alarmierte eine vierte, die auf der Stelle den Laden verließ. Langsam wurde mir mulmig. Ich fragte Antonio, was da los sei, ob er diese eine kennen würde. Er winkte ab, „si“ und „no“ und „no importante“. Verunsichert forderte ich ihn zum Gehen auf. Die vielen auf mich gerichteten Augenpaare waren mir unheimlich. Auf mein Drängen hin bahnten wir uns einen Weg zum Ausgang.
Drei Häuser weiter in Glorias Bar stießen wir auf den Chief mit seiner Dame. Großzügig lud er uns zu einer Runde Caipirinha ein und verabschiedete sich alsbald.
Knapp eine Minute später stand er wieder an unserem Tisch, berichtete besorgt, vor der Tür sei eine betrunkene Brasilianerin, die wüsste, dass Antonio und ich in dieser Bar säßen. Offenbar handelte es sich um die eifersüchtige Schwarze aus dem Tanzlokal. Das Gesicht wolle sie mir zerschneiden.
Die Männer gingen hinaus, um sie zu beruhigen.
Auf den Schrecken hin tranken wir einen letzten Caipirinha und brachen auf.
Im selben Moment, als ich die Straße betrat, schüttete mir jemand ein Glas Whisky ins Gesicht. Das Zeug brannte in den Augen, ich konnte nichts mehr sehen, hörte aber, wie meine Feindin blitzschnell das Glas an der Hauswand zerbrach, um mit spitzen Scherben auf mich loszugehen. Geistesgegenwärtig packte mich Barbesitzerin Gloria hinten am Kragen, zog mich zurück in ihre Bar, während die Männer mit der wilden Furie rangen. Mütterlich wischte mir Gloria den Whisky aus den Augen. Irgendjemand rief die Polizei, die sogar prompt erschien. Im Polizeiwagen wurde ich zum Schiff gefahren.
Ich erhielt Ausgangsverbot, solange wir im Hafen von Santos lagen. Die Frauen bildeten schnell eine Informationskette, und jede, die mich in der Stadt anträfe, egal ob Tag oder Nacht, würde mich ganz einfach umbringen.
„Sie fragen nicht, sie töten gleich“, erklärte der Polizist auf Portugiesisch.
Ich verstand und blieb an Bord.
Wie gerne hätte ich das Land ausgekundschaftet. Irgendwo hinter der Stadt, jenseits der Berge beginnt der Regenwald, in dem die Indios wohnen. Urnatur, Dschungel und Naturvolk zogen mich magisch an. Am liebsten wäre ich in den Urwald hineingekrochen, um mit echten Indianern zu leben – mein Kindertraum. Bei ihnen musste doch so was wie eine Essenz des Lebens zu finden sein, zumindest eine Lebensform, die unserer wahren menschlichen Natur entspricht. Ich hasste die Zivilisation.
Zwei Wochen später lief das Schiff in den Hafen von Buenos Aires ein, Hauptstadt Argentiniens. Enorm gespannt war ich auf diese Stadt, in Erwartung einer unbekannten, südamerikanischen Welt. Doch bis auf die Taxis sah es hier genauso aus wie in Berlin oder Paris. Meine Gier nach Neuem wurde noch nicht erfüllt. Oder suchte ich nach etwas Altem?
Zu Hause fiel ich sofort wieder in meine Ängste.
Aus Verzweiflung wandte ich mich an einen Psychoanalytiker, nahm nun zweimal die Woche an einer Gruppensitzung teil. Doch anstatt dass die Ängste verflogen, bekam ich ein neues Symptom hinzu. Eine Kommilitonin erzählte mir von der Idee, so viel zu essen, wie man Lust hat, sich anschließend auf der Toilette den Finger in den Hals zu stecken und alles wieder auszuspucken, damit man nicht dicker wird.
Dieses