Eisblaue Sehnsucht. Ute Dombrowski
Studenten, warum muss es ausgerechnet der sein?“
„Weil ich eine innere Verbindung spüre. Kennst du das nicht? Wir gehören zusammen, das Schicksal will es so.“
Sie starrte fasziniert auf die Visitenkarte.
„Linus Karelios, was für ein schöner Name, passend zu einem so schönen Mann.“
Kira winkte ab. Mariella war nicht mehr zurechnungsfähig. Sie musste sie im Auge behalten, damit sie sich nicht in etwas verrannte, was ihr am Ende nur Schmerzen bereitete.
„Rufst du ihn an?“
„Natürlich!“
„Versprich mir, mir alles zu erzählen.“
„Warum denn?“
Kira war überrascht, denn sonst war das überhaupt keine Frage zwischen ihnen.
„Ich will doch nur nicht, dass er dir wehtut.“
Jetzt nahm Mariella ihre Hand und zog sie in Richtung Stadt.
„Mach dir keine Sorgen, komm, wir trinken Kaffee. Meinst du, sie lassen mich in dieses Archiv rein?“
„Das werden wir sehen.“
Kira war immer noch unruhig, folgte ihrer Freundin aber trotzdem in ihr Stamm-Café. Dort tranken sie jede einen großen Milchkaffee und aßen ein Stück Donauwelle, die Spezialität des Hauses.
Nachdem Mariella für sie beide bezahlt hatte, liefen sie langsam zurück zur Uni. In einem der hintersten Gebäude war das Archiv ansässig. Die Tür war verriegelt und sah so stabil aus, dass niemand unbefugt eindringen konnte, also legte Kira den Daumen auf einen goldfarbenen Knopf neben einer Sprechanlage.
„Ja bitte?“, fragte eine krächzende Frauenstimme.
„Ich bin Kira Krickel und habe einen Ausweis für das Archiv.“
Statt eines Summens als Zeichen, dass sich die Tür aufdrücken ließ, stand plötzlich eine ältere Frau in einem eleganten grauen Kostüm vor ihnen. Sie trug die weiße Haarpracht hoch aufgetürmt und sah sie über die Spitze Nase hinweg neugierig an. Kira hielt ihr den Ausweis hin, den sie genau musterte.
„Aha, unbegrenzter Zugang. Na, Sie müssen ja wirklich eine besondere Studentin sein. Sonst kommt hier keiner rein, der nicht mindestens Professor ist. Wer ist das?“
Sie zeigte mit einem spitzen Zeigefinger auf Mariella.
„Das ist meine Freundin Mariella, die mich bei meiner Recherche unterstützen möchte.“
„Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Sie allein oder niemand.“
Sie stand aufgerichtet in der Tür und kniff die Augen zusammen, als wartete sie darauf, wie sich Kira entscheiden würde.
Die beiden Freundinnen sahen sich an. Mariella trat von einem Bein auf das andere. Es schien, als wolle sie sofort losrennen.
„Ich bin schon weg“, rief sie, ehe Kira etwas sagen konnte.
Mariella küsste sie auf die Wange und nickte der strengen Frau zu, die den Eingang zum Archiv wie ein Drache seinen Schatz bewachte. Jetzt trat sie zur Seite und ließ Kira mit einem Lächeln ein.
„Ich bin Myrna Sarolies, die Leiterin des Archivs. Kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.“
8
Mariella war nicht nach Hause gegangen, sondern direkt wieder in die Uni. Dort stand sie vor dem Hörsaal, in dem Linus verschwunden war. Eine Stunde später öffnete sich die Tür und die Studenten strömten heraus. Linus kam mit einer jungen Frau, der er den Arm um die Schulter gelegt hatte, auf sie zu. Ihre grauen Augen musterten Mariella, die nicht wusste, wie sie reagieren sollte. Nach der ersten Begegnung mit Linus hatte sie nicht damit gerechnet, dass er nicht allein war.
„Hallo meine Schöne“, sagte er und Mariella atmete auf. „Das ist Lima, eine Freundin.“
Er zog den Arm von Limas Schulter und schob sie ein Stück von sich.
„Wir sehen uns morgen im Seminar. Denke bitte an das Buch.“
Lima schluckte, presste die Lippen aufeinander und ging, ohne sich nochmal umzudrehen, davon. Linus beugte sich zu Mariella hinüber und küsste sie sanft auf die Wange. Sofort kribbelte es in ihrem Bauch, als wäre ein Wurf junger Mäuse erwacht.
„Ich dachte schon, dass sie deine Freundin ist.“
„Aber meine Schöne! Nein! Nein wirklich. Ich kann seit ein paar Stunden nur noch an eine Frau denken und die bist du. Komm, gehen wir ein Stück durch den Park.“
Er griff ganz selbstverständlich nach ihrer Hand und lief mit langen Schritten in Richtung des großen Tores. Dort wurde er langsamer und ließ Mariellas Hand los. Sie schlenderten nebeneinander her.
„Du bist also die Freundin von Kira. Weißt du, dass sie nachts durch den Park stromert?“
„Ja, sie hat mir von dir erzählt und … ich … ich wollte dich unbedingt kennenlernen.“
Linus strahlte Mariella an.
„Also warst du nicht zufällig in der Uni?“
„Nein, ich habe heute frei und wollte Kira abholen, aber sie hatte mir versprochen, dich zu suchen.“
Mariella war rot geworden. Was redete sie da? Wie um alles in der Welt kam sie dazu, diesem Mann alles zu erzählen? Noch nie war sie so offen gegenüber Fremden gewesen und mit einem Mal fühlte sie einen unaufhaltsamen Drang und alles sprudelte nur so über ihre Lippen.
Sie hörte Linus‘ Stimme wie aus weiter Ferne: „Und hat dir Kira auch gesagt, warum sie im Park war?“
Mariella wollte es nicht verraten, doch sie konnte nicht verhindern, dass sie einfach weiterredete.
„Kira hat mir von einem Traum erzählt und dann wollte sie sichergehen, dass es wirklich nur ein Traum war. Sie hat einen Mann getroffen, der eisblaue Augen hat und der hat sie vor einem Angreifer gerettet. Das ist sicher Quatsch, denn Menschen lösen sich nicht in Nebel auf, schon gar nicht in eisblauen. Was denkst du?“
Linus nahm ihre Hand. Mit der anderen strich er ihr über die Wange. Mariella wurde fast verrückt vor Verlangen, sich in seine Arme zu werfen. Gleichzeitig schien es, als würde sie neben sich stehen und sah diese Szene wie in einem Film. Was geschah hier? Es war, als hätte Linus die absolute Macht über sie.
Er zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihre, sodass sie kaum noch Luft bekam. Alles um sie herum wurde schwarz.
Linus lächelte böse und fing die ohnmächtige Mariella in seinen Armen auf. Hinter einem Baum trat Lima hervor.
„Musst du sie immer küssen?“
„Hör auf, du weißt doch, dass sie so völlig willenlos werden. Ich liebe nur dich.“
Er ließ Mariella zu Boden sinken, nahm Lima in den Arm, grub seine Hände in ihre blonde Mähne und küsste sie leidenschaftlich. Zeitgleich erschien der schwarze Nebel und als er sich lichtete, waren die drei verschwunden.
Als Mariella wieder zu sich kam, konnte sie sich nicht bewegen. Das Atmen fiel ihr schwer, Beine und Arme schienen wie in Blei gegossen. Sie wollte die rechte Hand heben und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischen, doch es funktionierte nicht. Ihr Blick wanderte über ihren Körper, der sich unter einem weißen Laken abzeichnete, und dann fiel ihr er auf eine dunkle Steinmauer.
„Hallo?“, flüsterte sie. „Ist jemand da?“
Eine Antwort kam nicht, die Stille ringsum war undurchdringlich, selbst ihre Stimme hörte sie wie durch Watte. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Tausend Fragen flogen durch ihren Kopf: Wo bin ich? Was geschieht mit mir? Hat Linus mich hergebracht? Kann ich einfach aufstehen und gehen? Hat er mich betäubt und mir etwas angetan?
Sie horchte in ihren Körper