Weltenlied. Manuel Charisius

Weltenlied - Manuel Charisius


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Arbeit eines Waldhüters befragen müssen!

      Als Léun den Waldrand erreichte, war die Schwärze des Himmels einem tiefdunklen Blau gewichen. Der Morgen zog herauf. Über den Wiesen Grüntals hingen Nebelschleier. Von den Bewohnern des Tals war weit und breit nichts zu sehen oder zu hören.

      Wer schrieb ihm eigentlich vor, direkt nach Grünhag zurückzugehen? Sein Großvater schlief bestimmt, da spielte es keine Rolle, ob er jetzt gleich oder erst bei Sonnenaufgang nach Hause zurückkehrte. Unbeobachtet und ohne Verpflichtungen zu sein – das fühlte sich gut an. Er blieb stehen, überlegte kurz und beschloss, einen Umweg über den Mittleren See zu machen. Vielleicht konnte er noch eine Runde schwimmen, bevor er endgültig den Heimweg antrat. Vergnügt lief er los.

      Es dauerte nicht lang, bis sich vor ihm die Umrisse eines Zauns abzeichneten. Dahinter lag ein Garten.

      Granti!

      Mit einem Schlag war die Erinnerung an gestern wieder da.

      Lóbo und Çerbero.

      Der Gedanke an die beiden Hofhunde brachte Léuns Blut zum Kochen. Wut und Rachedurst überkamen ihn, und etwas geschah mit ihm.

      Fiel er ins Bodenlose?

      Löste sich etwas um ihn herum auf, um sich neu zusammenzusetzen?

      Einen Augenblick lang hatte er schreckliche, unbeschreibliche Angst. Doch schlagartig ruckte seine Welt zurück ins Lot. Mit einem Mal fühlte er sich prächtig, ungeheuer stark und den Biestern mehr als gewachsen. Sie hatten eine Lektion verdient, die sie ihr Leben lang nicht vergessen würden!

      Mit einem Satz war er auf der anderen Seite des Zauns. Lautlos und geschmeidig huschte er um Grantis Haus herum – er war selbst erstaunt darüber, wie leicht ihm das alles fiel. Die Fenster waren geschlossen, doch sogar hier draußen konnte er die Alte laut und deutlich schnarchen hören. Außerdem roch er etwas: die faulige, schweißige Duftnote der schwarzen Köter.

      Er folgte der Spur und erreichte eine Hundehütte. Hier hausten sie also. Er näherte sich dem Loch, das den Eingang darstellte. Angst hatte er keine.

      Aber dieser Gestank, als er den Kopf hineinsteckte!

      Noch bevor die beiden Hunde den Eindringling überhaupt bemerkten, packte er den ersten bei seinem speckigen Nacken und biss mit aller Kraft zu. Es knackte dumpf zwischen Léuns Zähnen, er schmeckte Blut. Angewidert ließ er von seinem Opfer ab. Sein Blick fiel auf den zweiten Hund. Lóbo – oder war es Çerbero? Egal. Er stupste ihn an.

      Der Köter schreckte auf, stieß ein unterdrücktes Knurren aus. Die Laute gingen in ein Winseln über, und einen Moment lang war Léun irritiert. Genug Zeit für das verängstigte Hundebiest, sich mit scharrenden Pfoten an ihm vorbei zu arbeiten und hinaus in den Garten zu fliehen.

      Léun zog sich ebenfalls ins Freie zurück. Mit einem gewaltigen Satz holte er den rasend gewordenen Hund ein und packte zu. Das Tier wollte sich seinem Griff entwinden, Léun spürte etwas Zähes unter seinen Fingern einreißen, lautlos, wie die Haut kalt gewordener Milch.

      Der Hund fiel zu Boden und blieb liegen. Ein leises Jaulen, ein ächzendes Fiepen, dann rührte er sich nicht mehr. Das Gras neben ihm begann sich schwarz zu färben. Der Gestank raubte Léun schier den Atem.

      Er wandte sich ab, sprang über den Zaun und verließ Grantis Grundstück. Der Gedanke, ein Bad zu nehmen, erschien ihm jetzt abwegig. Wer konnte schon ahnen, welche Gefahren in den Untiefen des Mittleren Sees lauerten! So schnell er konnte, lief er in nördlicher Richtung los.

      Wenig später tauchten menschliche Behausungen vor ihm auf. Grünhag. Zielstrebig eilte er zur Hütte seines Großvaters. An der Haustür angekommen, stellte er fest, dass sein Atem so ruhig ging wie kurz vor dem Einschlafen.

      Er gähnte ausladend, sein enormer Kiefer knackte. Geräuschvoll ließ er das Gebiss wieder zuschnappen. Eine unerklärliche, geradezu bleierne Müdigkeit hatte ihn befallen. Er musste sich unbedingt ausruhen, nur einen Moment lang!

      Schwerfällig ließ er sich vor der Türschwelle nieder, bettete den Kopf auf ordentlich übereinandergelegte Pranken, schloss die Augen und war im nächsten Moment eingedöst.

      Frierend erwachte er. Wieso lag er auf der Veranda herum? Langsam richtete er sich auf. Seine überkreuzten Unterarme, auf denen sein Kopf geruht hatte, schmerzten. Überhaupt fühlte er sich regelrecht zerschlagen. Jemand hatte eine Decke über ihn gebreitet. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er sonst nichts am Leib hatte.

      »Du hättest reinkommen können«, sagte eine Stimme.

      Léun fuhr herum, bekam die rutschende Decke gerade noch am Saum zu fassen und schlang sie sich hastig um die Hüften. Sein Großvater saß auf der Bank neben dem Eingang. Er hatte ihn wohl schon eine ganze Weile beobachtet.

      »Morgen …« Léun gähnte und streckte sich ungelenk, indem er einen angewinkelten Arm hob und gleichzeitig mit dem anderen die Decke festhielt.

      »Morgen, mein Lieber. Schön, dass du zurück bist. Ich hab mir Sorgen …« Lóhan pausierte. »Ich meine, ich hab dich vermisst.«

      »Tut mir leid.«

      »Schwamm drüber. Zieh dir was an, das Frühstück ist fertig.«

      Léun nickte. Ihm knurrte der Magen. Bevor er dem alten Mann ins Innere der Hütte folgte, warf er einen raschen Blick zurück. Der Himmel war grau, noch immer hingen Nebelfetzen über dem Dorf. Seltsam – hatte er nicht bei Héranon übernachtet und von ihm Kleider bekommen? Wieso war er dann plötzlich wieder hier, noch dazu nackt?

      Er blickte zu Boden. Der Regen des vergangenen Tages hatte die Erde aufgeweicht. Von der Dorfstraße her, quer durch den Vorgarten und bis zum Absatz vor der Hütte, wo er gelegen hatte, zogen sich Fußspuren. Von seinen Füßen stammten sie eindeutig nicht.

      Léun bekam eine Gänsehaut.

      Ein Traum, sagte er sich in Gedanken. Das kann nur ein Traum gewesen sein. Oder ich sehe Gespenster.

      Er stolperte seinem Großvater hinterher, schlug die Tür der Hütte zu und hastete zum Ofen. Zum Glück brannte schon ein Feuer. Keuchend hielt er seine zitternden Finger dicht an die gusseiserne Ofentür.

      »Ziemlich kühl heute, was?« Sein Großvater schüttete heiße Milch in zwei Becher. »Hoffentlich hast du dir keinen Schnupfen geholt.«

      Léun schüttelte den Kopf.

      »Ich war bei Héranon.«

      Der Alte hielt kurz inne, rückte den Korb mit Brotscheiben zurecht und schob seinen Stuhl zurück, um Platz zu nehmen.

      »Da bin ich beruhigt«, sagte er. »Bei so einem Sturm wie gestern sollte man nicht draußen schlafen. Schon gar nicht in dem allzu schlichten Gewand, das der Manngott Máris dir …«

      »Das weiß ich selber!«, fauchte Léun unbeherrscht. Mit zwei Fingerkuppen berührte er die glühendheiße Tür der Ofenkammer. Er stieß einen Fluch aus, steckte sich die Finger in den Mund, um die Schmerzen wegzulutschen, und stampfte zur Tür.

      »Wo willst du hin? Deine Milch wird kalt.«

      »Iff hab keim Hunger«, log er. »Wo if’ der Fpaten?«

      »Bitte? Ich verstehe dich nicht.«

      Schmatzend nahm er die Finger aus dem Mund.

      »Wo ist der Spaten?«

      »Draußen, hinter der Regentonne. Was hast du damit …«

      Der Knall der hinter ihm zufallenden Hüttentür schnitt seinem Großvater jäh das Wort ab.

      Lóhan glaubte zu wissen, wie man einen Jungen erzog. Er selber war in Léuns Alter unberechenbar und oft genug unerträglich gewesen. Er konnte sich gut daran erinnern, wie sein Vater auf Sturheit und so manchen plötzlichen Stimmungsumschwung reagiert hatte. Auch wusste er noch genau, welche erzieherische Maßnahme bei ihm ein Einsehen bewirkt hatte – oder das Gegenteil.


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