Weltenlied. Manuel Charisius

Weltenlied - Manuel Charisius


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lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Was willst du mir damit sagen?«

      »Frag ihn.« Héranon machte eine knappe Kopfbewegung in Richtung seines Enkels.

      Léun fühlte, wie er rot wurde.

      »Komm schon, Kerl«, ermunterte ihn der Waldhüter in kumpelhaftem Tonfall. »Sag mir, was du weißt. Ich werd dich schon nicht an den Talwart verpfeifen. Hier geht es um eine ernste Sache! Grantis Hunde waren ihr ein und alles. Die Alte ist völlig fertig. Es war auch wirklich kein schöner Anblick, glaub mir. Einem der beiden hatte das Vieh noch in der Hundehütte das Genick durchgebissen. Der andere Kläffer lag im Garten, aufgeschlitzt von der Kehle bis zwischen die Hinterläufe. Wie ein geschlachtetes Schwein. Der Talwart war nicht besonders froh über die Sauerei.«

      Es befremdete ihn selbst – und doch konnte sich Léun eines Gefühls der Genugtuung nicht erwehren. Grantis Hunde waren tot! Genau wie er geträumt hatte. Keine schwarzen Köter würden ihn mehr verbellen, wenn er am Grundstück der Alten vorbeilief. Das hatten sie verdient, die beiden Biester.

      »Grins nicht so blöd!«, herrschte der Waldhüter ihn an. »Niemand mochte die Viecher leiden, aber wie jeder und jede in diesem Tal hat auch die alte Granti ein Recht darauf, dass die Sache aufgeklärt wird. Der Jäger ist drauf und dran, den Räuber, der ihre Hunde gerissen hat, zur Strecke zu bringen. Also gib schon zu, dass der Garten voller riesiger Tatzenabdrücke war, bevor du mit dem Spaten gewütet hast!«

      »Das reicht, Héranon.« Lóhan hob warnend den Zeigefinger.

      »Da war nichts«, beteuerte Léun hastig.

      »Und du hör auf zu lügen«, wies sein Großvater ihn leise zurecht. »Natürlich waren da Spuren. Sie endeten genau vor meiner Veranda – keine zwei Schritt von dir entfernt. Ich bin vielleicht alt, aber noch nicht ganz blind.«

      Eine Weile herrschte betretenes Schweigen.

      »Äh … na und?«, druckste Léun schließlich achselzuckend herum. »Dann ist eben ein Löwe durch unseren Garten gelaufen. Was kann ich dafür?«

      »Du könntest ihn gesehen haben«, sagte sein Großvater. »Das wäre nicht verwunderlich.«

      »Selbst wenn du ihn nicht gesehen hast«, setzte der Waldhüter hinzu, »muss dir doch auf dem Nachhauseweg irgendwas aufgefallen sein. War jemand unterwegs? Hat es auf Grantis Grundstück Geräusche gegeben? Hast du dich verfolgt gefühlt? All so was. Red schon!«

      Léun schüttelte den Kopf.

      »Du bist also direkt hierher zurückgelaufen, ohne irgendwas gehört oder gesehen zu haben?«

      Léun nickte.

      »Hör zu, Kerl«, grollte Héranon leise. »Ich rieche es, wenn man mich belügt. Und ich mag es nicht sonderlich.«

      Léun geriet wieder ins Schwitzen. Sein Großvater schaute ihn streng und prüfend an. Wahrscheinlich glaubte nicht einmal er ihm. Es herrschte gespannte Stille. Léun kam der Gedanke, das Naheliegende in Worte zu fassen. Das Unmögliche, vollkommen Absurde. Zorn brodelte in ihm auf.

      So leicht war er nicht weichzuklopfen!

      »Ich habe geschlafen!«, rief er grimmig. Das entsprach sogar der Wahrheit. »Wie soll ich da mitbekommen haben, wer durch unseren Vorgarten schleicht?«

      Pause.

      Lóhan legte die Stirn in Falten und atmete geräuschvoll aus. Wenigstens hatte er endlich den Blick abgewandt.

      »Was ist bei der Löwenquelle passiert?« Héranon lehnte sich zurück und tappte mit zwei Fingern auf der Tischkante herum. »Erzähl’s mir, Kerl. Oder lass es. Ich werd’s schon selber rausfinden.«

      »Versuch’s doch!«, rief Léun wütend, sprang auf und stürmte aus der Hütte. Niemand hielt ihn auf. Im Laufschritt verließ er das Dorf in Richtung Mittelhag.

      So sehr Héranons Verhör ihn auch erhitzt hatte – sein Zorn verrauchte schnell, als er unter dem noch immer wolkenverhangenen Himmel dem Pfad durch die alten Obstwiesen folgte. Sollte der Waldhüter doch denken, was er wollte! Von ihm hatte er sich nichts befehlen zu lassen. Wie hätte er ihm bei der Suche nach einem Löwen auch helfen sollen?

      Andererseits waren da nun mal diese Spuren gewesen. Spuren, die direkt auf ihn zugeführt hatten. Ob er am Ende noch verrückt wurde wie der alte Górian? Der war vor drei Jahren in die Rockenberge gegangen und seither verschollen. Er hatte immer behauptet, Stimmen zu hören, die ihm einredeten, er sei der König der Bäume und müsse zu seinem Volk zurückkehren. Womöglich stand er noch heute mit ausgebreiteten Armen irgendwo in der Wildnis herum!

      Léun atmete tief durch und beschloss, dass er mit jemandem über die Vorkommnisse des vergangenen Tages reden musste. Vielleicht wurde ihm dann selbst einiges klarer. Nur dass dieser Jemand weder Héranon noch sein Großvater war!

      Etwas raschelte in den mannshohen Gräsern hinter der letzten Biegung.

      Léun blieb stehen, wandte sich um und lauschte. Nichts. Höchste Zeit, dass er Mittelhag erreichte! Er rannte los, blieb nach einer Viertelmeile stehen und verschnaufte.

      Da glaubte er, hinter sich rasche Schritte zu hören. Er erstarrte. Jemand war ihm auf den Fersen!

      Eine Windböe ging durch die Gräser, ließ die Halme und die Zweige der alten Apfelbäume rauschen. Als der Wind verebbte, war alles still.

      Léun fröstelte und ging gemächlich weiter. So sehr er auch seine Ohren anstrengte – für den restlichen Teil des Weges war hinter ihm nichts mehr zu hören.

      Endlich lichtete sich das hohe Gras und gab den Blick auf ein paar Hütten frei. Dahinter lag das Seeufer. Auf der linken Wegseite war ein Bauer mit Strohhut und Sense damit beschäftigt, einen breiten Streifen abzumähen. Léun hob grüßend die Hand, obwohl er ihn nicht kannte, und spazierte nach Mittelhag hinein.

      Das Dorf wirkte wie immer schläfrig. Ein paar Hühner sprangen gackernd davon, als er ihren Weg kreuzte. Auf der Bank vor einer Hütte saß eine alte Frau. Sie rauchte Pfeife und nickte ihm lächelnd zu. Er spürte ihren Blick im Rücken, bis er um die nächste Ecke gebogen war.

      Die Tür von Errics Haus stand offen. Ein köstlicher Duft nach süßem Reisbrei schlug Léun entgegen. Ihm krampfte sich der Magen zusammen, schließlich hatte er auf das Frühstück verzichten müssen. Vorsichtig näherte er sich dem Eingang.

      Noch bevor er den Vorgarten durchquert hatte, erschien vor ihm die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes.

      »Arrec ist nicht da.« Er musterte Léun abschätzig. »Wenn du ihn siehst, Junge, sag ihm, das Essen ist fertig. Er soll machen, dass er nach Hause kommt, der Faulpelz!«

      »Wo ist er denn?«, beeilte sich Léun zu fragen.

      »Was weiß ich, Junge? Am See vielleicht?« Ohne ein weiteres Wort schlug Arrecs Vater ihm die Tür vor der Nase zu.

      »Na, dann bis bald«, knurrte er missmutig. Er hatte es schon lange aufgegeben, Erric mögen zu wollen. Der Reishändler war sowieso in ganz Grüntal als Geizhals verschrien. Aber hatte Arrec nicht ab und zu ein paar Stunden Freizeit verdient, wo ihn sein Vater täglich von früh bis spät schuften ließ? Léun schnaubte und machte kehrt.

      Vom See her wehte ein frischer Wind. Die Wolkendecke hatte Risse bekommen, aus denen ab und zu die Sonne hervorschien. Graues Zwielicht und gleißende Helligkeit wechselten einander in rascher Folge ab. Am Ufersaum blieb Léun stehen, um nach seinem Freund Ausschau zu halten.

      Wie immer hatten sich ein paar Familien ans Wasser begeben. Es war wenig wahrscheinlich, dass Arrec sich in ihrer Nähe aufhielt, aber aus dieser Entfernung war niemand genauer zu erkennen.

      Léun ging weiter, bis er den Rand des Sees erreichte. Das Wasser war klar und kalt. Er grub die Zehen in den weichen, überspülten Untergrund und spähte unauffällig zu den drei Erwachsenen hinüber, die ein paar Steinwürfe entfernt mit Kleiderwaschen beschäftigt waren. Arrec


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