Victoria. Helmut H. Schulz

Victoria - Helmut H. Schulz


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gut Deutsch, wie sich versteht, denn die spätere hohenzollernsche Verwandtschaft bestand nicht eben aus geborenen Linguisten. Ihr Enkel Kaiser Wilhelm II. sprach und schrieb englisch, wie auch sein Bruder Heinrich. Letzterer gab der englischen Presse sogar Interviews in dieser Sprache. Man sieht, welche Fortschritte die Deutschen unterdessen gemacht haben; ihre politischen Fachleute reden sogar im heutigen deutschen Parlament am liebsten englisch. Die Herzogin hat nie eine andere Sprache als die deutsche benutzt, obwohl sie Jahre in England lebte, aber was heißt leben in diesem abgezirkelten Haus mit sehr beschränkten Kontakten. Allerdings verstand sie, was ihr auf Englisch gesagt wurde, recht gut.

      Mit Hilfe ihrer Gouvernante Lehzen bastelte das Kind unzählige Puppen, was man offenbar für erzieherisch wertvoll hielt. Um ihrem Bewegungsdrang zu steuern, hielt man Vickelchen einen Esel; auf dessen geduldigen Rücken wurde sie durch den Park geführt, man redete ihr ein, dies alles sei ein Glück. Wie gesagt, es lebte noch ein Kind in diesem trostlosen, nicht einmal goldenen Käfig, Victorias Halbschwester Feodora, und eine Etage tiefer, die Kinder Conroys. Diejenigen Untertanen, die Gelegenheit hatten, ihre spätere Königin als Kind kennenzulernen, lobten sie als lebhaft und niedlich, aber solchen Urteilen ist nicht zu trauen. Endlich kam die Regierung nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass Vickelchen existierte; sie entschloss sich zu einer Geste und erhob die Erzieher Conroy und die Lehzen in den Adelsstand, machte sie zur Lady, obschon sie beide nicht viel erzogen haben, wie die Politiker jener Tage alsbald feststellen mussten, die mit ihrer jungen Königin regieren sollten.

      Gelernt hat Vickelchen natürlich doch etwas, so wie wir alle etwas lernen, nicht viel Vernünftiges, wie wir auch. Sie konnte tanzen und zeichnen, und besaß ein wenig Musikverständnis. In Religion unterrichtete sie ein bestellter Lehrer der Staatskirche, ein Vikar. Mit William IV., dem Nachfolger des heimgegangenen Georg IV., bestieg der letzte und populärste König vor Victoria den Thron. Sailor Billy, wie er im Volk genannt wurde, war allerdings auch bereits 64, seine Gemahlin, die Königin Adelaide 38, so dass nach menschlichem Ermessen von dieser Seite her keine Gefahr mehr für die Thronfolge Victorias drohte. Deshalb ergriff die Herzogin von Kent, gelenkt von ihren Beratern, die Gelegenheit beim Schopfe, und verlangte vom Parlament ein eigenes Gesetz, das sie zur Regentin bestimmte, also zu einer Art Lord Protektor, falls der amtierende Seemann-Billy, sterben und ihre Tochter noch nicht volljährig sein sollte. Das war an sich ganz vernünftig und sogar gerecht, wäre die Herzogin als Regentin in der Lage gewesen, ihren Platz denn auch auszufüllen. Das bezweifelten alle im Königreich, die ihren schwankenden Charakter, ihren Mangel an Takt und Intelligenz kannten. William IV. zögerte auch deshalb, weil er der Kensington-Bande nicht traute. Allein das Recht war in diesem Fall so unstreitig auf Seiten der Herzogin, dass ein sogenanntes Regentschaftsgesetz, in beiden Häusern eingebracht, die Zustimmung erhielt. Mit schlimmen Folgen für die Verhältnisse in Kensington; denn die Herzogin sah sich nunmehr schon als wirkliche Regentin bestätigt. Misstrauisch verschärfte sie die Aufsicht über ihre Tochter, und schloss in ihren Argwohn jeden Außenstehenden mit ein. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr, also 7 lange Jahre sollte Victoria diesen täglichen Drangsalierungen noch ausgesetzt bleiben, bis sie sich selbst in die Freiheit entlassen konnte. Sie war im Grunde allein. Conroy stand offenkundig zu ihrer Mutter in einer engen Beziehung, beide waren auf das gemeinsame Ziel eingeschworen, die künftige Königin unter ihre Kontrolle zu halten.

      Die englische Geschichtsschreibung hat die Rolle Conroys in Kensington natürlich genauer untersucht, und alles herausgefunden, was daran herauszufinden war. Skrupellosigkeit gehörte zum allgemeinen politischen Stil. Was aber hätte Conroy, was die Herzogin von Kent wirklich erreichen können? Berater einer Königin zu werden und für dauernd zu bleiben, dazu reichte es bei weitem nicht. Weder die Herzogin, noch ihr irischer Liebhaber standen einer der wenigen Familien nahe, die England beherrschten. Für diese Ladies und Lords waren sie Emporkömmlinge. In dem englischen System einer komplizierten Gewaltenteilung hätte sich Conroy auch dann nicht halten können, wäre er der vollen Unterstützung Victorias sicher gewesen. Er überschätzte den Einfluss eines Monarchen in England bei weitem, so scheint es. War er ein Abenteurer, der alles auf eine Karte setzen konnte, so lagen die Dinge bei seiner Geliebten anders; ihr war die Rolle als Mutter der Königin längst zugeschrieben, das heißt, sie konnte wirklich gewisse Ansprüche stellen. Ob sich das Paar durch die rasche Erledigung des Regentschaftsgesetzes über die Verhältnisse täuschen ließ, irgendwie bleibt es unerklärlich, dass diese beiden nicht deutlicher sahen, wie weit sie gehen konnte. Onkel Leopold, Stockmar, die Lehzen sahen diesem Spiel offenbar mit Ruhe zu, verlieren konnten sie nichts, wohl aber etwas gewinnen.

      Conroy übte auch einen direkten Druck auf die heranwachsende Victoria aus, als er versuchte, ihr die Zustimmung abzupressen, ihn als Privatsekretär zu engagieren. Das junge Mädchen weigerte sich standhaft, etwas zu unterschreiben, das sie für eine ungewisse Zeit an Conroy binden würde. Vielleicht oder sicher sogar hat sie diesen Mann gehasst, der alle lenkte, der tat, was er für gut und angemessen hielt. Selbst die Finanzen der Herzogin verwaltete der Sekretär wie er wollte, und nicht zu seinem Schaden, wie sich bei einer Untersuchung später herausstellen sollte. Andererseits aber war sie in seiner Gewalt, dank der verblendeten, dummen Mutter. Victoria schlief weiterhin im Zimmer der Herzogin, während die Lehzen im Vorzimmer nächtigte. Victorias Briefe und Tagebücher wurden einer Zensur unterworfen, ja, ihre Mutter zwang sie zu diesen Tagebuchaufzeichnungen, vielleicht, um zu erfahren, was ihr Kind dachte, fühlte, vielleicht auch in der perfiden Lust, ihr so etwas wie die schöpferische Energie zu nehmen; niemand denkt den gleichen Gedanken zweimal. Von alledem drang offenbar genug nach draußen, um die maßgeblichen Politiker jener Tage aufmerksam werden zu lassen. Noch besaß die Mutter alle Rechte über ihre Tochter, und niemand hätte ihr in die Erziehung dreinreden dürfen.

      Onkel Leopold, die Zukunft im Voraus berechnend, begann seiner Schwester einen neuen Plan einzureden, den der Heirat Victorias mit Albert, ihrem gleichaltrigen Vetter. In dieser kritischen Zeit musste Leopold dem Kensington Palast allerdings häufig fernbleiben, da ihn seine Bewerbung um den belgischen Thron stark in Anspruch nahm. Endlich hatte sich der Königsmacher entschlossen, selber eine Krone anzunehmen, die Belgier suchten gerade dringend nach einem Monarchen. Stockmar, der Weise, musste mit nach Brüssel, und so konnte auch er die sich zuspitzenden Verhältnisse nicht aus der Nähe verfolgen. Aber geschrieben wurde viel. Schließlich aber erwies es sich, dass der Baron als erster das Spiel durchschaute, das in Kensington gespielt wurde. Stocky, wie ihn Victoria nannte, betrieb freilich auch eifrig den Heiratsplan seines Arbeitgebers, in welchem ein Conroy keinen Platz mehr hatte.

      Nach der Inthronierung Williams IV. kam eine neue Aufseherin ins Spiel, die Herzogin von Northumberland, aber viel hat sie nicht begriffen, und schon gar nicht eingegriffen. Immerhin aber war von den Vorgängen um die künftige Königin Englands so viel Nachteiliges nach außen gedrungen, dass sich die Herzogin zu einer Flucht nach vorn entschloss. Obschon eine Königin nichts wissen muss, schlug die Mutter vor, ihre Tochter Victoria auf deren geistiges Vermögen oder Unvermögen prüfen zu lassen. Freilich wurde diese Sache nachlässig bis fahrlässig betrieben. Conroy durfte die Gutachter auswählen, zwei angesehene, das heißt, staatstreue Diener der Kirche Englands, Bischöfe zumal. Die fanden heraus, dass bei der Erziehung Victorias keine Versäumnisse aufgetreten seien. Die künftige englische Königin wäre aller Sinne mächtig, könne antworten und sich benehmen, lesen und schreiben, sie wisse, dass Jesus Christus zur Rechten Gottes sitze und die Staatskirche unfehlbar sei. Sie könne auf einem Esel reiten, wenn dieser von einem Lakaien geführt werde, und vermutlich auch auf einem Pferd sitzen und ein wenig der Musik Purcells lauschen. So blieb alles beim Alten.

      Seit dem Regentschaftsgesetz lautete der Titel Victorias: Königliche Hoheit. Um sie dem Volk vorzuweisen und auf ihre künftige Rolle vorzubereiten, wurde Victoria jetzt herumgezeigt; immer aber reiste die Kensington-Bande mit. Die junge Dame fühlte sich unglücklich und tief bedrückt, was auch kein Wunder war. William, der Seemann-Billy, scheint neben einem gesunden Schuss Menschenverstand auch ein wenig menschliches Interesse an dem Kind genommen zu haben und nicht ohne Mitgefühl für sie gewesen zu sein. Er verlangte, sie öfter um sich sehen, was in Kensington geradezu Hysterie auslöste.

      Heute ist mein 16. Geburtstag. Wie furchtbar alt sich das anhört; aber ich spüre, dass, die beiden kommenden Jahre, bis ich 18 bin, fast die wichtigsten von allen sein werden. Schreibt Victoria in ihr Tagebuch, diplomatisch, listig genug. Wusste sie doch eines ganz genau,


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