Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz


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Tor bugsierte.

      Vera war eine von uns. Zusammen mit ihrer Mutter lebte sie in der Wohnung über dem Laden des Flickschusters. Veras Vater galt als gefallen oder verschollen. Ihr Körper war knabenhaft schmal, ihre kleinen Hände mit runden Nägeln, denen sie vergeblich eine ovale Form zu geben suchte, knochig und trocken. Auf dem Sattel ihrer Nase blühten im Sommer Kolonien winziger brauner Flecke, die im Winter wieder verschwanden. Ihre Haut war ohne Leuchtkraft, ihr Haar rot und stumpf wie das einer Füchsin. Hinter lang geschlitzten Lidern verbargen sich grünliche Augen.

      Vera war sechzehn oder etwas darüber. Trotz ihrer Jugend glich sie einer herumgestoßenen Katze, vor der besorgte Mütter ihre heranwachsenden Söhne warnten.

      Es war Frühherbst und die Luft war mit Feuchtigkeit gesättigt. Vera lehnte mit dem Rücken am Geländer der Jannowitzbrücke. Die Spree wirkte heller als der Abendhimmel. Vera hatte die Arme aufgestützt. Kraftlos hingen ihre Hände herab. Unter dem Mantel zeichnete sich ihr magerer Körper ab. Blass sah ihr ovales Gesicht aus, wie mit grauem Mehl bestäubt, Ihr Mund war ein übergroßer giftiger Tupfer. Wenn sie schwieg, zuckten die geraden rötlichen Brauen leicht.

      «Was machen wir, heute?», fragte sie.

      Es war immer die gleiche Frage. Wir stellten sie jeden Abend, und wir wussten selten eine Antwort. Aber wir hatten fieberhafte Träume vom guten Leben und schämten uns unserer Gier, von der wir annahmen, sie sei schlecht.

      Wir gingen zurück in unser Viertel. Vera ging neben mir. Dann verschluckte uns unser Kietz.

      In mir war eine ausweglose Wut über die erbärmliche Langeweile, die uns jeden Abend heimsuchte.

      Plötzlich sagte Vera: «Mein Vater hat geschrieben.»

      Das klang gleichgültig. Vielleicht wollte sie ein Gespräch in Gang bringen. Sie erfand oft Neuigkeiten, um sich in den Mittelpunkt zu rücken.

      «Ich denke, dein Vater ist gefallen», sagte ich.

      «Tote schreiben nicht», sagte sie. «Wir sollen zu ihm kommen. Er lebt in Hamburg.»

      Mich interessierte das nicht sehr. Wenigstens war es keine Sensation. Es kam alle Tage vor, dass Tote auferstanden und Lebendige verschwanden. Wir hatten uns an die Nachwehen des Krieges gewöhnt, soweit man sich daran gewöhnen konnte. Täglich verlasen die Sprecher der Rundfunkstationen lange Listen Toter, Verschollener und Wiedergefundener. Dann dachte ich: Was will er mit einer halb erwachsenen Tochter und einer alternden Frau in einer Zeit, in der jeder zuerst an sich denkt? Warum meldet er sich erst jetzt?

      «Wahrscheinlich hat er nicht in die russische Zone gewollt», vermutete ich.

      Vera nickte.

      «Wenn er euch braucht, dann geht es ihm dreckig», sagte ich.

      «Das haben wir auch gedacht», sagte sie, «aber er schreibt, dass er ein Lebensmittelgeschäft hat.»

      «Lebenskünstler gibt es eben immer», sagte ich. Zustimmend lachte Vera und zog die Oberlippe in den Mund.

      «Ich bin höchstens neugierig, wie er ist», sagte sie dann, «falls ich überhaupt neugierig bin. Meine Mutter hat gar keine Beziehung mehr zu ihm. Er hat ihr immer nur auf der Tasche gelegen.»

      Wir kannten unsere Väter nur aus der Kinderzeit. Wir hielten sie für mitschuldig am Krieg. Unser Misstrauen gegenüber Erwachsenen war übermäßig scharf.

      Als die Blumenstraße in Sicht kam, legte Vera den Arm um meine Hüften.

      «Spiel mit», sagte sie, «vielleicht sieht es einer und ärgert sich.»

      Ich dachte darüber nach, mit wem sie jetzt ging. Mit Vigo schien es aus zu sein. Aus unserer Gegend kam kein anderer in Betracht.

      «Was würdest du an meiner Stelle tun?» nahm sie den Faden wieder auf.

      «Das musst du schon selber wissen», sagte ich, «schlimmstenfalls kommst du eben zurück.»

      Über die knarrende Treppe, vorbei an trüben Glühlampen, die auf den Treppenabsätzen brannten, schlichen wir auf den Dachboden. Hier hing Wäsche, kleine Pfützen hatten sich unter den Wäschestücken gebildet.

      «Bruno wird eine feuchte Nacht haben», sagte Vera.

      «Bruno oder wir», sagte ich. «Kannst du deiner Mutter nicht mal sagen, dass sie ihre Wäsche woanders trocknen soll?»

      «Sag es ihr selber», riet Vera, «und sag ihr auch gleich, wo sie ihre Wäsche trocknen soll, ohne dass sie geklaut wird.«

      «Geklaut kann sie hier auch werden.»

      Wir ließen das Thema fallen und drängten uns unter die geöffnete Dachluke. Schwarz und weit wölbte sich der Himmel über unser Viertel, soweit das Viereck der Dachluke ihn sehen ließ. Hier hatten wir über die Ausdehnung des Himmels spekuliert und uns Sternbilder eingeprägt. Der Bucklige, der seine Nächte abwechselnd in Matkowskis Kneipe und in der Sternwarte verbrachte, half uns. In unseren Augen war er ein halber Kopernikus, aber gescheitert und versoffen. So ungefähr endeten alle Träume in unserer Gegend.

      Mit gedämpfter Stimme sagte Vera:·«Ich will aber nicht weg von euch.»

      Sie drängte sich heran. Ich öffnete ihr Kleid und tastete nach den Spitzen ihrer kleinen harten, noch unausgebildeten Brüste. Ihr Lippenstift schmeckte nach einer klebrigen fetten Substanz, ihr Mund nach Rauch. Unser Wissen stammte von Vera. Sie hatte unsere zögernden Hände geführt.

      «Leg die Arme um mich», verlangte sie, «ich friere.» Ich fühlte ihre schmalen, knochigen Schultern durch den Stoff. Vor einem Vierteljahr hatte sich Vera von uns zurückgezogen. Angeblich wollte sie sich verloben. Ihre Mutter, die allen Einfluss auf die Tochter verloren hatte, konnte oder wollte keine Auskunft geben. Wir schrieben Vera ab. Wer uns verließ, der verriet uns.

      Ich versuchte Vera zu wärmen, aber in diesen mageren Körper ging keine Wärme hinein.

      «Gehst du wieder mit Vigo?», fragte ich.

      «Wenn er nichts Besseres findet, kommt er zu mir.»

      Ich gab es auf, ihre trockene Haut zu wärmen, und zerbrach eine Zigarette. Wir rauchten schweigend. Hastig stieß Vera den Rauch durch die Nase.

      «Habe ich dich geärgert?», fragte sie.

      «Was willst du denn in Hamburg machen?», fragte ich ausweichend.

      «Ich will ja gar nicht weg», sagte Vera, «was geht mich mein Vater an. Ich kenne ihn ja kaum.»

      Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Ihr Haar roch nach trockenem Staub. Ich fragte mich, ob ich selber nach Hamburg gehen würde, in ähnlicher Lage wie Vera. Ich kam zu keinem Schluss.

      «Ob es wieder Krieg gibt?», fragte sie.

      Ich sah keinen Zusammenhang zwischen dieser Frage und dem Brief ihres Vaters. Vera sah auch keinen, wie ich durch eine Gegenfrage herausbekam.

      «Also zerbrich dir nicht den Kopf darüber», sagte ich.

      Sorgfältig zertrat ich die Zigarettenreste.

      Sie sagte: «Lass es doch brennen, Wölfchen»

      Es lohnte nicht, darauf zu antworten. Vera hatte es selbst dahin gebracht, dass wir sie nicht ernst nahmen.

      «Trag mich die Treppe runter», sagte sie.

      «Hör schon auf», sagte ich mit wachsendem Ärger, «um halb sechs muss ich raus.»

      Sie schloss Kleid und Mantel und ging leise zur Tür. Ebenso leise folgte ich ihr. Im Treppenhaus brannten wieder die kläglichen Funzeln, was durchaus nicht selbstverständlich war. Strom gab es nur stundenweise.

      Als wir uns trennten, sagte Vera: «Du hast Lippenstift am Mund.»

      Sie zog ein Taschentuch heraus, spuckte darauf und rieb mir die Farbreste ab.

      Ich erinnere mich an eine Fassade aus solidem Hartklinker von der Farbe überreifer dunkler Kirschen. Ihre Geometrie war zweckmäßig


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