Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz

Abschied vom Kietz - Helmut H. Schulz


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Geschlechtsverkehr. Wir haben jetzt eine Masse Neuinfektionen. Kriege und Epidemien gehen immer zusammen. Wie sind eigentlich die Rollen unter euch verteilt?»

      Ich klärte ihn auf und fragte, ob er glaube, dass die Häuser einmal abgerissen werden würden.

      «Vielleicht», sagte er, «aber wann?»

      Abends trafen wir uns auf der Straße, Vera und Vigo, Helga und ich.

      Veras Mutter arbeitete in einer Wäscherei. Durch das Stehen waren ihre Fußgelenke geschwollen. Die Bandagen, die sie trug, änderten daran nur wenig. Ihr Gesicht, von dünnem, fahlem Haar umrahmt, war flach und leblos. Sie hörte schwer, weshalb ihre Augen meist einen fragenden Ausdruck hatten.

      «Sie muss gleich kommen, wenn sie kommt», sagte die Plätterin böse, auf meine Frage nach Vera. Sachkundig füllte sie das schwere alte Plätteisen mit glühender Holzkohle, die sie dem Herd entnahm. Die Wärme des Eisens prüfte sie an ihrer Wange.

      «Komisch», sagte ich, «dass es noch Leute gibt, die was zu plätten haben.»

      Sie nickte gleichgültig. Ich hatte Mühe mit ihr, ein Gespräch in Gang zu bringen.

      «Hat Ihr Mann eigentlich noch mal geschrieben?», fragte ich.

      Das Thema schien irgendeine Saite in ihr zum Klingen zu bringen, denn sie sagte: «Was ich mit diesem Lumpen ausgestanden habe! Er hat nie gearbeitet. Angeblich hat er einen Laden. Woher, das möchte ich wissen.»

      Auf einen Laden richteten sich die Hoffnungen vieler Leute aus unserer Gegend. Aus den Worten der Plätterin war Achtung vor der Tüchtigkeit ihres Mannes herauszuhören.

      «Du brauchst nicht zu warten», sagte sie plötzlich, «wenn Vera kommt, muss sie was für mich besorgen.»

      Später ging ich mit Vera zum Schlossplatz. Es war noch hell, aber schon merklich kalt. Der Winter kündigte sich an. Vor der ausgebrannten Schlossfassade liefen Gruppen von Menschen auf und ab. Jeeps mit Soldaten fuhren langsam über den Platz.

      «Woher hat deine Mutter die Zigaretten?», fragte ich.

      «Sie verkauft die Zigaretten für ihre Chefin», sagte Vera kurz, «meine Mutter ist doch ein blödes Aas. Sie lässt sich von jedem ausnutzen.»

      Vera kannte sich aus. Sie sprach einen Mann an, und das Geschäft wickelte sich schnell ab.

      «Wie ist denn deine Arbeit?», wollte sie wissen, als wir zurückgingen. «Hast du dich schon eingelebt?»

      «Nein», sagte ich.

      In den ersten Wochen hatte ich versucht, mich dem Trott anzupassen. Einmal in der Woche ging ich in die Berufsschule, die am Schlesischen Tor im amerikanischen Sektor lag. Der Lehrer hieß Garnitz, wir nannten ihn Garnichts. Er war Kirchenmaler.

      «Was hast du denn erwartet?», fragte Vera erstaunt. «So geht es doch allen?»

      «Das fragt sich noch», sagte ich.

      Wir gingen hinauf in mein Zimmer. Bald darauf kamen Helga und Vigo. Bei heißem Pfefferminztee erörterten wir unsere Lage. Bald wendete sich das Gespräch dem Schwarzmarkt zu.

      «Bestrafen», sagte Helga, «hart bestrafen, wer sich jetzt noch bereichert und die Not ausnutzt.»

      Das schwache Licht zweier Kerzen verwandelte das helle Blau ihrer Augen in ein dunkles Ultramarin, wie ich mit neuem Sachverstand feststellte. Wie gewohnt gab es abends keinen Strom.

      Vera bestätigte Helgas Bemerkung nicht allzu eifrig.

      «Dann kannst du ein Ghetto aus der Stadt machen», sagte Vigo.

      Er sah im Kerzenlicht aus wie mit Lack übergossen. Bei Vera trat das Weiß ihrer Haut noch stärker hervor. Der Rauch stinkender Zigaretten kräuselte sich bis zur Decke.

      Helga sagte: «Vielleicht bin ich zu radikal.»

      «Wir kennen ja nichts anderes», sagte Vigo, «und ich habe den Eindruck, dass es eher schlimmer als besser geworden ist. Irgendjemand hat mal gesagt, genießt den Krieg, der Friede wird furchtbar. Der hat mehr recht gehabt, als er selber wusste.»

      Nach einer Weile sagte Helga: «Das ist eine schauderhafte These. Im Krieg haben doch alle geschworen, lieber zu hungern, bloß keine Bomben. Alle haben es gesagt, keiner will es mehr wahrhaben.»

      In letzter Zeit widersprach sie Vigo öfter. Zwischen beiden war eine Spannung entstanden, deren Ursache ich nicht kannte.

      «Schlechtes vergisst man eben schneller», warf Vigo ein.

      «Gefühlsmäßig ja», gab Helga zu, «aber wir haben ja auch Verstand und können uns erinnern.»

      «Das ist noch die Frage, ob du dich erinnerst oder bloß nachplapperst», meinte Vigo.

      «Ich habe eine Freundin», sagte Helga ruhig. «Freundin ist vielleicht zu viel gesagt, denn sie ist bedeutend älter als ich. Sie hilft mir vieles verstehen, was ich allein nicht begreifen würde. Ich bin nicht so borniert, mich für fertig zu halten»

      Ich hörte zum ersten Male von dieser Freundin. Gerade wollte ich mich nach ihr erkundigen, als Vera mich unterbrach.

      «Müsst ihr euch eigentlich immer zanken?», fragte sie.

      Die beiden schwiegen.

      Dann entwarf Vera Lebenspläne für uns. Helga wird Kinderärztin. Vigo Rennfahrer und Wölfchen Kunstmaler.»

      Vera hatte nie ein Rennen gesehen.

      «Und was wirst du?», fragte Helga spöttisch.

      «Schauspielerin», sagte Vera prompt.

      «Du hast auch bloß Glück gehabt», wendete Helga sich an Vigo, «der Krieg, den die Nazis angezettelt haben, ist verloren. Jetzt tragen eben alle die Folgen.»

      Vera schmiegte sich an Vigo. Ziemlich brüsk schob er sie weg.

      «Die sagen doch immer, es gibt keine, wie heißt das, Schuld?»

      «Kollektivschuld», warf ich ein.

      «Richtig», sagte Vigo, «also dieses Ding gibt es nicht. Logischerweise brauchten wir dann auch nicht mitzuhungern. Wir sind ja Kinder gewesen, als die Nazis rankamen. Wie sieht es aber in Wirklichkeit aus? Kennst du einen, der mit den Rationen auf die Dauer leben kann? Lass den Winter kommen, dann wird es noch schlimmer. Bei uns waren sie heute in der Werkstatt, wir sollen Holz schlagen.»

      Die Tasse, an der sich Helga wärmte, klirrte leise. Im Streit bewahrte sie selten kaltes Blut.

      «Warum geht ihr neuerdings so schnell aufeinander los?»

      Helga sagte: «Wölfchen, gerade uns Jüngeren wirft niemand eine Schuld vor. Wir müssen doch gerecht sein. Ganz Europa ist zerstört. Wenn nun jeder so denkt wie Vigo, was dann?»

      Vigo sagte wütend: «Komm doch nicht mit der alten Leier. Es denken ja eine Menge Leute nur an sich. So gleichmäßig ist die Not nun auch wieder nicht verteilt. Das Gemeinschaftsgerede hängt mir zum Halse raus.»

      Da Helga schwieg fuhr er fort: «Wer mich überzeugen will, der muss bei sich anfangen. Ich habe den Mann, der uns für die Holzaktion gewinnen wollte, erst mal gefragt, ob er auch mitfährt. Da ist er abgezogen. Und ich frage dich, wie viel Gramm Brot gibst du an Charles beispielsweise freiwillig ab?»

      Vera sagte: «Macht mal Schluss mit dem Gequatsche. Wir ändern doch nichts an diesen Sachen.»

      Ich wartete darauf, dass sich die angegriffene Helga verteidigen würde.

      «Eines will ich dir noch sagen», meinte Vigo, «ich geh in keine Kirche, in keine schwarze und in keine braune, aber auch in keine rote.»

      «Das verlangt auch kein Mensch von dir», sagte Helga, «ich geh auch in keine Kirche.»

      «Noch nicht», sagte Vigo lauernd, «noch gehst du nicht in die rote Kirche.»

      Im Stillen musste ich ihm zustimmen. Helga schien sich von uns zu entfernen. Sie dachte nicht mehr unsere


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