Johann Gabb. Thomas Pfanner

Johann Gabb - Thomas Pfanner


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Die alten Haudegen, die erfahrenen Soldaten, sie alle nahmen sich, was sie kriegen konnten. Keine Skrupel, kein Mitleid.

      Zum ersten Mal überlegt Johann ernsthaft, ob es desertieren solle. Er durchdachte einige Optionen und Pläne, während er äußerlich stoisch Fleisch vom Schwein säbelte und in Blechteller warf. Er kam nach einer Weile zu dem Schluss, noch ein wenig zu warten. Hinter der Front klappte es noch ganz gut, die Militärpolizei lauerte überall auf Deserteure, als sei dies das Hauptproblem des Reiches.

      Er überdachte seine Möglichkeiten noch die ganze Nacht, bis das Schwein verspeist war und alle Männer in eine Art Tiefschlaf fielen. Auch als das Feuer nur noch schwach flackerte und nur mehr vereinzeltes Wimmern durch die wabernde Dunkelheit drang, dachte er nur daran, wie er wieder nach Hause kommen könnte. Er hatte genug von Deutschland und dankte dem Herrn dafür, in Ungarn leben zu dürfen. In Ruhe, ohne ständig mit einem Haufen kriegslüsterner Idioten konfrontiert zu sein.

      Er nahm sich vor, alle erreichbaren Karten auswendig zu lernen. Er müsste in der Lage sein, blind nach Hause zu kommen und unterwegs allem Ärger auszuweichen. Schließlich konnte er jetzt Auto fahren.

      Buisdorf

      Mein Großvater schweigt für eine Zeit, ein bitterer Gesichtsausdruck zieht die Mundwinkel nach unten. Er ist jetzt ganz in der Vergangenheit. Oder auch nicht, wie er sogleich beweist.

      »Zu allen Zeiten litt das Volk unter dem Größenwahn der Mächtigen«, murmelt er fast unhörbar und spuckt tatsächlich verächtlich auf den Boden.

      »Die Menschen kommen miteinander aus, immer. Das ändert sich erst, wenn die Herrschenden Langeweile empfinden. Langeweile bekämpfen sie immer mit Krieg. Sie haben ja nichts zu verlieren, am Ende des Krieges sind immer nur die einfachen Leute tot, vertrieben, gefangen oder wenigstens mittellos. Die Herrschenden sind fein raus. Ihnen gehören die Fabriken und der Grund und Boden, alle Sachwerte und die ganze Kunst. Das alles verliert nicht an Wert, nur weil die Zahl der Menschen kleiner wird oder ein neuer Herr einzieht. Manchmal ist Krieg sogar profitabler als Frieden, dann knallt es eben. Wenn alle Menschen alles haben, dann gibt es Krieg und die Leute müssen sich wieder alles neu kaufen. Bei den Reichen. Deswegen gibt es Krieg. Ganz einfach.«

      Eigenartige Wendung. Will er sich freisprechen von den damaligen Ereignissen?

      »Aber wir haben doch Frieden. Alle Völker sind in der EU vereint und arbeiten zusammen.«

      »Papperlapapp!«, ruft er voller Verachtung. »Das sieht nur so aus. Österreich-Ungarn war auch mal ein toller Staat. Bis die Einwohner vergaßen, was sie ihm zu verdanken hatten. Nehmen wir doch mal Ungarn als Beispiel. Zwei Jahrhunderte unter der Türkenherrschaft haben das Land und seine Bewohner nahezu vernichtet. Alle waren bettelarm, das Land lag brach und Hunger herrschte. Dann konnten die Österreicher die Türken vertreiben, anschließend haben sie das leere Land mit Siedlern gefüllt. Das Land hat sich erholt, die Menschen hatten wieder zu essen und alles war gut. Sogar für das, was ihr heute Integration nennt, wurde gesorgt. Die Ungarn machten Wehrdienst bei den Deutschen, und die Deutschen dienten in ungarischen Regimentern. Jeder musste die Sprache des anderen sprechen und verstehen, damit niemand sich abschotten konnte.«

      Netter Gedanke, denke ich. Ich lerne türkisch und der Türke deutsch. Wenn ich sehe, dass selbst die Deutschen, die in die Türkei auswandern, vielfach noch nicht mal die Straßenschilder lesen können, empfinde ich hohen Respekt. Die haben damals die komplette Bevölkerung zur Mehrsprachigkeit gezwungen.

      »Aber dann kamen die Adligen der jeweiligen Nationen und haben ihre Völker beknetet, sich als Angehörige ihrer jeweiligen Nation zu fühlen und nicht mehr als Angehörige eines Staates. Und ab da ging es zur Sache. Die Ungarn fühlten sich von den Österreichern unterdrückt und die Rumänen, Slowaken und Kroaten von den Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg bekam dann jeder seinen Willen und seinen eigenen Staat. Da haben sie dann alle in der Scheiße gesessen, jeder in seinem eigenen, ach so freien Land.

      Gemeinsam hatten sie ein großes Land, jeder für sich allein am Ende nur eine kleine, armselige Klitsche. Kannst heute noch in den Ländern herumfahren, da siehst du, die alten Gebäude aus der Kaiserzeit sind immer noch das Schönste und Dauerhafteste, was da rumsteht. Der alte Glanz ist noch zu spüren, alles, was danach kam, war nur Scheiße. Die Leute lebten ärmer und beschränkter als zuvor, sie haben gespürt, dass sie fast alles verloren hatten. Das wollten sie natürlich ändern.

      Schließlich haben sie alle nach dem starken Mann gerufen, der sie aus der Scheiße rausholt. Gemeldet haben sich natürlich die gleichen Schweinehunde, die zuvor alles versaut haben. Die Leute sind so dumm.«

      »Heutzutage wird das nicht passieren. Heutzutage wird mehr verhandelt und alles in Kompromissen geklärt, bei der jeder sein Teil bekommt.«

      Ich fasse es gerade nicht. Ich diskutiere mit einem Demenz-Kranken und er macht mich ohne Probleme platt.

      »Das sieht nur so aus«, sagt er nämlich mit einer inneren Gewissheit, wie sie sonst nur Philosophen zeigen. »Zu allen Zeiten wurde verhandelt und wurden Kompromisse erzielt. Immer so lange, bis einem der Großköpfe die ganze Mühe zu viel wurde. Den Mächtigen sind nämlich die einfachen Leute immer lästig gewesen, und irgendwann ergibt sich die Gelegenheit, sich ihrer zu entledigen.

      Siehst du nicht, dass alles immer wieder passiert? Im Frieden gibt es Einwanderung, die Menschen vertragen sich und leben miteinander. Und dann zündelt einer der Großköpfe und das große Blutbad beginnt. Das Ergebnis sieht so aus, dass die verschiedenen Völker sich wieder trennen, durch Mord, Vertreibung, Völkerwanderung, was auch immer. Und dann geht es von vorne los. Immer. Weil die Herrschenden Spaß daran haben. So läuft das seit tausenden von Jahren. Guck in die Geschichtsbücher.

      Schon das Römische Reich ist daran zugrunde gegangen, dass die einzelnen Völker nicht mehr Römer sein wollten. Am Ende hatten sie ihre Eigenständigkeit erreicht, aber in Wirklichkeit gewannen sie nichts außer Elend, Tod und Dunkelheit. Nationalisten sind die Pest, ob als Einwanderer oder Einheimische, ganz egal.«

      Eigentlich mag ich ihm nicht widersprechen. Es sieht tatsächlich manchmal so aus, als ob die sogenannte Elite sich Länder-übergreifend ziemlich mag, zumindest respektiert und auch miteinander kooperiert. Das eigene Volk wird hingegen eher verachtet und als Last betrachtet. In früheren Zeiten waren die Herrschenden aller Länder sogar miteinander verwandt, heute fühlen sie sich aufgrund ihres elitären Selbstverständnisses verwandt.«

      »Aber heute sind doch andere Leute an der Macht«, versuche ich ihn ein wenig einzubremsen. »Wir sind doch gar nicht mehr konservativ und rechts, die Linken sind jetzt an der Macht.«

      »Pah!«, ruft er aus. »Die Linken habe ich auch genießen dürfen. In einigen Fällen handelte es sich um die Rechten von gestern. Im Geiste gibt es auf jeden Fall überhaupt keinen Unterschied. Ihnen allen gemein sind die extremen Ansichten. Und die beruhen auf einem Selbstverständnis, welches sie zu Gleichgesinnten macht: Sie fühlen sich im Besitz der allerhöchsten Erkenntnis, und zwar nur sie allein. Außerdem wähnen sie sich immer und überall im Recht. Und da sie von der göttlichen Weisheit gekostet haben, glauben sie sich überlegen. Sie verachten alle anderen Menschen so sehr und so radikal, dass sie lieber töten würden, als die bloße Existenz von Leuten zu akzeptieren, die andere Meinungen oder andere Lebensweisen vertreten.«

      Bitterkeit schwingt in seinen Worten mit. Offenbar beruht sein Ausbruch auf realen Erlebnissen. Davon will ich mehr wissen.

      »Das ist doch meiner Ansicht nach stark übertrieben. Der Mensch ist fähig zu Diskussion und zu Kompromissen.«

      Ein blöder Einwand, jede Nachrichtensendung belegt das Gegenteil. Ich vermute aber, von meinem Großvater insgeheim als Linker betrachtet zu werden, von daher könnte die Provokation ihn zu weiteren Berichten animieren. Und es funktioniert.

      »Du hast ja keine Ahnung. Niemand hat eine Ahnung, wenn er im Frieden lebt. Die Menschen tun nur friedfertig und sozial, sie passen sich den Gegebenheiten an, perfekte Untertanen sind sie zu jeder Zeit. Ist Kritik erwünscht, kritisieren sie. Ist Kampf erwünscht, kämpfen sie. Aber die allermeisten Mitbürger werden ansatzlos zu deinem schlimmsten Feind, sobald die Gelegenheit da ist. Im Krieg etwa, in der


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