Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung. Helmut H. Schulz

Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - Helmut H. Schulz


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und Antworten verwickelt hatte, aber sie wußte nicht wirklich, zumindest im Augenblick nicht, wie weit sie nun eigentlich waren, sie mit ihm und er mit ihr. In der Tat stand ihm der Freigang nach angemessener Zeit zu und übrigens nach dem mit der Leitung besprochenen Maßregelplan und festen Terminen. Ihr Handwerk war ausgeschöpft. Und er spürte sicherlich etwas von ihrer Unsicherheit und stellte sich darauf ein. Manchmal hatte sie das Gefühl der Zufriedenheit gehabt, das sich einstellt, wenn das zu erreichende nahe scheint; dann wieder fand sie ihn versperrt, sie wäre demnach keinen Schritt weiter gekommen mit diesem Mann, einem gefährlichen Triebmörder, mit Jahren Haft und dem Ausnahmefall der Maßregel, ein Rückfalltäter, der sie allerdings von all ihren Klienten in der Haftanstalt seiner Intelligenz wie seines überlegenen Auftretens wegen am stärksten interessierte.

      Martin, wie sie ihn bei sich mit Vornamen nannte, war ein Mann von Mitte vierzig, davon hatte er einen Teil hinter Gittern verbracht; er war groß, gut gebaut, kräftig und gesund, mit einem regelmäßigen nichtssagenden runden Gesicht, einer, der Bücher aller möglichen Richtungen bestellte, um mit ihr gelegentlich darüber zu diskutieren, etwa über Raskolnikow, den klassischen Kriminalroman, ein Buch, auf das sie übrigens erst durch ihn aufmerksam gemacht worden war; ein Mann, der sich in zwei Sprachkursen der Anstalt eingeschrieben hatte, der ein Tagebuch mit genauen Eintragungen seines Tageslaufes führte, vom täglichen Krafttraining über philosophische Betrachtungen bis zu den reuevollen Ergüssen, wenn von seinem verfehlten Leben die Rede war, der Bitte um Verzeihung und dergleichen; all das war im Tagebuch ziemlich druckreif festgehalten wie ein Psychogramm; er hatte sie bereitwillig darin lesen lassen, um mit ihr darüber zu sprechen.

      Er war auch heute wie immer sauber und gepflegt, und sie mußte sich erneut vor Augen halten, daß dieser äußerlich völlig normale Zeitgenosse seine dritte Haftstrafe verbüßte, zwei davon vorzeitig beendet, mit Glück durch Straferlaß wegen tadelloser Führung, ehe er endlich im dritten Anlauf in den Vollzug kam, das heißt, seine Richter hatten die Strafe vorsorglich heruntergesetzt, beeindruckt von dieser Persönlichkeit, um ihm den Weg nach draußen über die Maßregel offen zu halten. Ein Lebenslänglicher kommt nicht in den Maßregelvollzug, so will es das Gesetz. Aber er war arrogant, ein Zyniker; ein Menschenfeind wie er selbst eingeräumt, aber beteuert hatte, sich verändert, geläutert zu haben. Was sie von dieser ursprünglichen Haltung gemeinsam wirklich abgebaut hatten, dies war nicht vorherzusagen, die Probe stand aus. Tatsächlich hatte sie einige Male den Eindruck gehabt, es mit einem Halbstarken, mit einem ethisch und geistig in der Entwicklung zurückgebliebenen zu tun zu haben. Er fing sich wieder, nach einem Tumult, dem schweren Angriff auf einen Beamten und einigen Tagen Arrest. Da er sich dann wieder gut verhielt, sehr korrekt, höflich auftrat, wurde die Forderung der Anstaltsleitung und der Druck von oben, dem Aufsicht führenden Organ des Landes, in der die kleine moderne gut eingerichtete Anstalt mit Regelvollzug lag, dringlicher. Zumindest sollte der Maßnahmeplan endlich wieder in Gang gesetzt werden, stufenweise mit dem Freigang dieses braven Häftlings zu beginnen, eine Brücke zu schlagen, bis zum Hafturlaub und der Entlassung der ihm sicherlich nachgelassenen Strafe. Er hätte eigentlich arbeiten sollen oder müssen, tat es aber nur sporadisch nach Gutdünken, fand immer einen Grund, sich den Aufgaben zu entziehen.

      Sie kannte aus Schilderungen ihrer anderen Klienten und den Fallstudien, wie sie ihr gelehrt worden waren, die stereotypen Muster der Beichten, dieses sich fallweise Rückerinnern an sexuellen Mißbrauch in der fernen Kindheit durch einen Verwandten, häufig durch den leiblichen Vater oder Stiefvater, womit die Beichtiger ihr eigenes brutales Triebleben rechtfertigten. Übrigens deckten sich diese Protokolle mit den Vorgaben der Sozialforschung, ungeachtet der Frage, wer hier nun wen kopierte, der Täter den untersuchenden Psychologen oder dieser den Täter, der ihm das Material in die Recherche diktierte und überlegen war, weil er das Spiel immer in der Hand behielt, stets wußte, was er wollte. So wurden die Einlassungen bewertet, als Tatsachen, obschon sie oft nur Phantasie gewesen sein dürften. Wer in der Kindheit Gewalt erlebt hat, wer mißbraucht worden war, gibt das Erlebte weiter, übt als Erwachsener Gewalt, wie er sie selber erfahren hat, lautete die Weisheit. Eine Kette, die mit besonderen Methoden zu durchbrechen oder umzukehren sei; dafür bekam sie hier ihr Geld und sie tat redlich und gläubig ihre Arbeit nach der Regel, nicht ohne gelegentliche Bedenken. Martin aber hatte nie versucht, seine Karriere auf diese Topoi, die in den meisten Fällen nicht nachprüfbar waren, zu erklären. Im Gegenteil machte er sich über diese Schauermärchen anderer lustig, auf welche die Psychologie ihre realen Schlüsse aufbaute. Mißbrauch in Jugend und Kindheit als zum sozialen Erbe des Triebtäters gehörend, hatte er für seine eigene Biographie, intelligent und weiträumig angelegt, nie genutzt, sich aber sehr wohl über die ihm zugängliche Literatur Kenntnisse der Methoden in der Fallanalyse verschafft und manches nachgestellt oder gespielt. Er sprach davon, wieder in Freiheit, seine Erlebnisse und Ansichten als Schriftsteller zu verwerten, wie heute üblich und vom Leser nachgefragt, von den Gazetten gut honoriert, abgeschmackt und verkommen zwar, aber die Erzeuger dieses Schund lebten ganz gut vom Honorar der Magazine, wie von den Interviews der Fernsehanstalten. Triebtäter waren ein nachgefragter Typus. Die allgemeine Lust am Grauen lieferte Stoff genug und ernährte einen Gestrauchelten redlich, erweckte sogar Mitleid mit seinem Schicksal. Wie auch immer, jedenfalls war er leicht über die Missbrauchsbilder hinweggegangen und hatte sich eine eigene Biographie erfunden...

      Diese war banal aber gut durchdacht; nach Abitur und der Ausbildung als Chemielaborant mit dem Ziel, ein Studium der Medizin aufzunehmen und nach einer Ehephase von nur wenigen Monaten, die mit der Entdeckung endete, er könne die Beziehung zu einer Frau weder emotional, noch sexuell dauerhaft aufrechterhalten. Es trat ein Bruch in seiner Persönlichkeit ein, wie er meinte. Die Ablehnungen der Universitäten stürzten ihn noch tiefer in eine Krise, da er sich allen überlegen geglaubt hatte; aus dem geplanten Studium der Medizin wurde nichts, der Wissensstand des Bewerbers reiche bei Weitem nicht aus, wurde ihm mitgeteilt. Tatsächlich war es ihm nicht gelungen, seinen wahren Bildungsstand per Test und Fragebogen wie bei Eignungsprüfungen die Regel, nachzuweisen und dieses anonyme Punktsystem, unheimlich, entfremdet, weckte seinen Hass auf eine unmenschliche Institution. Es war sein erster Zusammenstoß mit dem Gesellschaftssystem, er hielt ihn nicht aus und reagierte mit Rückzug.

      Der Trennung von seiner Frau war keine Gewalttat vorangegangen; sie gingen nach der Scheidung auseinander. Aber er stand vor einem Ausbruch und suchte danach, seine Niederlagen durch einen Sieg zu kompensieren. Er war nicht homosexuell gewesen oder es durch die Umstände geworden, hatte also nicht resignierend reagiert; er verabscheue Homosexuelle, behauptete er; seine Entwicklung hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Das geschah, als er bereits Mitte zwanzig war, sein Coming-out, wie er den Vorgang lächelnd bezeichnete, was das Gericht allerdings als schwere Straftat, als einen brutalen Mord ahndete. Es passiert in einem Nebenraum des Labors, in dem er als medizinisch-technischer Assistent hängen geblieben war, in dem ihn alle hänselten, allein und einsam lebend, ohne Freunde. Eine der Laborantinnen habe ihm dermaßen zugesetzt und seine Männlichkeit herausgefordert, ohne den Versuch einer Annäherung zu honorieren, daß er zuschlug. Ja, er wisse natürlich, wie man sich bei einem Flirt der Norm nach zu verhalten habe und dennoch. Die Ablehnung war an sich lächerlich, der Flirt ein Spiel, das man mitmachte oder nicht, kaum geeignet einen Mann aus der Bahn zu werfen oder ihn als Mann anzuzweifeln. An diesem Punkt der Erzählung hatte die Therapeutin häufig eingegriffen und ihn aufgefordert, zu beschreiben, was sich jeweils vor einer Gewalttat in seinem Inneren abspiele und wie ihm zumute war. Nach anfänglicher Weigerung hatte er sich nicht länger bitten lassen und sich in verschiedenen, also mehreren Sitzungen hintereinander geöffnet und ihr den Hergang intensiv dargelegt. Nur, wirklich klar war ihr nicht, welche Voraussetzungen ihn zu diesen Mordtaten geführt hatten, am Ende waren es drei vollendete Morde...

      Sie stellte die eigentlich unsinnige, aber zum Katalog gehörende Frage, ob er sich nie in die Lage seiner Opfer versetzt habe und er sagte spontan reumütig, wie jeder so befragte antworten mußte: Ja, natürlich. Die drei jungen Frauen, er nannte sie Mitbeteiligte, wie in Komplizenschaft zu ihm stehend, waren nach seiner Auffassung zunächst in ein bestimmtes Verhältnis zu ihm als Mann getreten; er sah sich zu sexuellen Handlungen angeregt, die immer mit einer Blockierung seiner Fähigkeiten und mit einer blinden brutalen Vergewaltigung endeten. Letzter Akt war die Tötung des Opfers, der Mitbeteiligten, aus Selbstschutz, um den Folgen einer Anzeige, der Anklage und Strafe zu entgehen. Sie verstand aber nicht wirklich, was er ihr erklärte; den Koitus habe er


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