Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung. Helmut H. Schulz

Perfekte Verbrechen ohne Verfolgung - Helmut H. Schulz


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entschlossen, dieses Zeug nie wieder zu benutzen. Sie vermied es auch, ihren Körper, den einer etwas fülligen Mitdreißigerin, im Spiegel zu sehen oder sich selbst zu fühlen. An ihr war nie etwas Besonderes gewesen, immer war sie ein geduldetes Entlein unter arroganten weißen Schwänen. Nun aber verabscheute sie sich selbst und fühlte sich fremd in ihrer Haut und wie schuldig. Den für ihn vorbereiteten Tee goß sie aus, das Gebäck warf sie weg. Erst am Abend war sie so weit gefasst, um in der Anstalt anrufen zu können, und sich nach ihm zu erkundigen. Ihre Stimme klang rauh und versagte schließlich, daß sie den Hörer auflegte und noch einmal ins Bad ging, um sich die Würgemale am Hals anzusehen, die seine Hände hinterlassen hatten, rötliche Striemen, die sich in den kommenden Tagen blau färben würden und durch ein Halstuch verdeckt werden mußten. Bei ihrem zweiten Anruf wurde ihr mitgeteilt, es sei alles in bester Ordnung; ihr braver Martin fristgerecht, frisch und munter wie nach einem Ferientag wieder im Vollzug erschienen, habe sein Abendessen bekommen und sich zurückgezogen …

      Sie verstand erst später in der tiefen Nacht, als sie vergeblich versucht hatte das Erlebnis wegzuschlafen, was zu ihrer Niederlage geführt hatte, und sie machte eine schlimme Phase durch, ohne erholenden Schlaf, ob der Demütigung und Erniedrigung und der Lehre, die er ihr erteilt hatte. Aber sie akzeptierte tapfer die körperliche und seelische Bestrafung für ihre Torheit. Sie nahm eine zweite und dritte Tablette eines starken Schlafmittels, obschon sie wußte, daß sie ihr keinen guten Schlaf, sondern nur einen dumpfen, den ganzen folgenden Vormittag andauernden Kopfschmerz hinterlassen und sie arbeitsunfähig machen würden. Fröstelnd stand sie gegen Morgen auf dem kleinen Balkon ihrer Wohnung, starrte in die Dämmerung und ordnete ihre Gedanken. Endlich verstand sie auch, was ihr vorher unklar gewesen, wie Notzucht, wie die Vergewaltigung einer Frau in Wirklichkeit ablief, wenn der Vergewaltiger etwas anderes als ein blödes keuchendes, nur von Trieben gelenktes Tier, war…

      Jeder Fall lag natürlich anders. Daß er bei ihr nicht die Notzucht, das immerhin begreifbare Streben eines Mannes nach Befriedigung gesucht hatte, sondern den Rausch der Macht über sie, das ging ihr auf. Dieser intelligente Typ, sicherlich einer der gefährlichsten Töter, wollte unterwerfen, wollte Widerstand spüren und ihn brechen, Angst auslösen und das Gefühl der Ohnmacht in seinem Opfer für dauernd anlegen und sich gefügig machen, ohne eigenen körperlichen Genuß. Er erlebte offenbar immer und immer neu seine verzweifelte Schwäche, und ebenso bedeutete die Spanne Zeit bis zur Tötung des Opfers, also keineswegs den schnellen Tod, die Frist zwischen Qual und Entsetzen und dem Ende, das Ziel seiner Handlungen. Nun glaubte sie ihm auch die Behauptung, er habe sich nach jeder Tötung elend und krank gefühlt. Dies war ihr weniger bei der Erläuterung durch den Anthropologen deutlich geworden als durch die erlittene Qual, ein Gedanke, bei dem sie bitter auflachte; sie war eine Expertin in Sachen Notzucht der Weiber durch Männer, die alles verstand. Mit diesen nüchternen Überlegungen kam zwar nicht das Vergessen, aber etwas wie Ruhe zurück, die sie brauchte, um den Augenblick danach zu überstehen. So weiterleben würde sie nicht können. Übrigens hatte Martin ihr Weltbild und die Lehrmeinung ihrer Disziplin, wenigstens was diesen Typ Mörder anging, handgreiflich revidiert...

      Die Tötung des Opfers war nicht die unerwünschte Nebenwirkung des Notzüchters, die Wendung, die aus einem Totschläger einen Mörder wider Willen machte, wie behauptet wurde, sie war Teil eines heimlichen Konzeptes, ein bewußt angelegter Plan. Der Triebmörder Martin stellte sich außerhalb der Gesellschaft und er würde diese seine Rolle nicht um das Butterbrot seiner Sozialisierung aufgeben, wie er ihr auch längst und offen seine Überzeugung dargelegt hatte, immer wieder rückfällig zu werden, was sie selbst bezweifelt hatte. Nun wußte sie es besser. Vor ein paar Wochen fiel ihr in dieser Nacht tiefer Niedergeschlagenheit und der Frage, was nun und was danach, das Treffen mit einer ihrer glücklicheren Kolleginnen ein. Bei einem gemütlichen Weiberplausch im Café war die Rede auf ihr Metier gekommen. Damals erschien ihr das Urteil der anderen überzogen, einem sprudelnden Temperament geschuldet. Im Studienjahrgang hatte diese Dame einst denn auch die Rolle des Clowns gespielt, weshalb sie gern gesehen, aber nicht ganz ernst genommen wurde. Sie alle hatten sich damals schon auf sicherem Weg zum Erfolg, zum Diplom gewähnt und sie, die Therapeutin, mußte sich nun eingestehen, daß ihre Einsprüche der anderen nur naiv und gutgläubig geklungen haben mußten. Beiläufig war es um Würde, um Menschenwürde und um Gleichheit vor dem Gesetz, als ein Teil dieser Würde gegangen, also Dinge, die man besser nicht zum Gegenstand einer Unterhaltung beim Wein macht, wenn dahinter eine raue Wirklichkeit steht.

      Wessen Würde war ihr entgegengehalten worden und: Gott, wie naiv! Märchen, von Märchenerzählern erdacht! »Nein, meine Süße, setze mal anstelle von Mensch einfach Täter, dann kommst du der Sache nahe! Von unserer Warte aus betrachtet, heißt das: Die Würde des Täters ist untastbar! Du glaubst es nicht? Wohlan! Nimm die Zeitungen zur Hand. Das Bild des schändlichsten Mörders wird mit einem schwarzen Balken vor den Augen gedruckt, um seine Würde zu schützen. Das Opfer kriegen wir im Ganzen dargeboten; es hat keine Würde, es braucht auch keine mehr, wenn es eine gehabt hatte. Ab jetzt kümmern sich Kriminalisten, Staatsanwälte, Richter, Gutachter und nicht zuletzt natürlich wir Idioten von der Fakultät der Heilspropheten um den armen Triebtäter! Den wollen wir verstehen, ihm wollen wir helfen und herauskriegen, warum er so geworden ist. Was eigentlich für das Opfer vollständig unwichtig und folgenlos ist. Er ist ein Mörder, nichts weiter, an dem wenig Interessantes ist, außer daß er leidenschaftlich mordet! Er ist Gegenstand einer Theorie, anders als das Opfer.« Sie hatte wohl dazu gelacht und gebremst: »Na, weiß du…«

      Die Kollegin von einst: »Es gibt also den Triebtäter, um den wir uns sorgen wie um ein kleines Kind, wir markieren Mitgefühl, sperren ihn weg! Er holt im Knast seinen Schulabschluß nach, macht vielleicht einen Meisterbrief, oder ein Diplom und verkauft seine widerwärtige Geschichte an eine widerwärtige, ekelhafte und perverse Presse! Verkauft sie an uns, die wir ihm den Weg geebnet haben. Das Opfer schlummert indessen den ewigen Schlaf oder es ruht als Asche in einer Urne, resquiesat in pacem, oder es quält sich angstvoll durch ein zerstörtes Dasein. Es gibt Dinge, die nicht rückgängig zu machen sind. Dieses ganze System ist auf eine Schimäre aufgebaut! Wir, also die Deutschen, übertreiben ja alles, unser Religionsstifter, der Onkel Sigismund Rüstig erfand zwar die Psychoanalyse, eine fragwürdige Sache übrigens, aber immerhin, wer was damit anfangen kann, dem sei sie gegönnt. Demnach ist unser Leben ein Ödipuskomplex, ja falls wir Männer sind und an der angeborenen Kastrationsangst leiden. Die Psychotherapie hat der Onkel aber schlau genug verworfen. Und nebenbei gesagt, die Kirche hat diese alberne Befragungstechnik schon vor Jahrhunderten erfunden und praktiziert, ohne das geringste zu bessern und die Beichte, das Te absolvo bis zur nächsten Beichte beruhigenderweise in die Welt gebracht. Glaube mir, einer alten Psychohexe; noch nie wurde ein intelligenter Invertierter im Sinne des Sektenstifters verändert und unsere Heilige Familie aus der Frankfurter Retorte, die wenigstens uns Deutsche ins Lager der Trauerunwilligen gebracht hat? Die hätten auf jeder Beerdigung die Tränen zählen können, die fließen, aber ja, es geht um die Projektion der Trauer ins Politische, Trauer ist zu demonstrieren, sie zu empfinden, das ist Privatsache. Die Deutschen heulen viel und gern, sie heulen, per Exempel, wenn sie eine Mauer bauen und sie heulen, wenn sie wieder abreißen.«

      Die Therapeutin auf dem Balkon lächelte in Erinnerung an all die Erklärungen der lieben Mitschwester und deren letzte Erkenntnisse, als sie nachsetzte… »Zum Onkel Eberhardt von der Kathedrale für Sozialforschung haben wir dummen Weiber seinerzeit ja wirklich aufgeblickt wie zu Jupiter. Und nun? Ich schäme mich nur noch, wenn ich an diesen Hokuspokus denke! Erinnerst du dich an die Heidelberger Patientenkollektive, die seinerzeit als das Nonplusultra der Psychotherapie, die offene Gruppe, galten? Macht kaputt, was euch kaputt macht! Na, das haben sie denn ja auch gründlich genug gemacht und zuletzt die Botschaft in Stockholm in die Luft gesprengt, um ein paar ihrer Mörder aus dem Knast zu holen.«

      Obschon dieser Vortrag unterhaltend genug war, und sogar ein Körnchen der Wahrheit enthalten haben mochte, waren ihr damals keine Argumente gegen die Anwendung ihrer Gelehrsamkeit eingefallen und übrigens wäre sie auch nicht zu Wort gekommen. »Und unsere Maulhelden, diese politischen Stabstrompeter, die sich vielleicht wirklich einbilden zu regieren oder die Vorstellung verbreiten, sie könnten es, würden alles irgendwie hinkriegen, und auf uns bezogen, die Würde des Menschen und die Lust am Morden mit der Psychotherapie kopulieren? Denen wir diese Justiz und den herrlich verkorksten Strafvollzug verdanken? Was


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