Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
massiert hatte. Nachdem Wauer das alles registriert hatte fragte er: „Soll ich erst mal etwas zu essen hinstellen?“
„Ja, klar, auch. Aber gib mir erst mal ein Bier, ich verdurste.“
Wauer stellte zwei Flaschen „Berliner“ auf den Tisch und ein Tulpenglas dazu.
„Brauch ich nicht – schon vergessen?“
Wenn sie nicht in Gesellschaft waren, tranken sie ihr Bier stets aus der Flasche, weil sie sich einbildeten, dass es da frischer schmeckte. War das das Zeichen dafür, dass sie noch die alte war? Er öffnete die Flaschen in Baustellenmanier; indem er die Kronkorken mit dem jeweils anderen Flaschenhalsende ausschnippste. Dann stellte er die Salatschüssel und zwei kleine Kompottschalen hin, brachte den Teller mit Schnittchen, die er in dem Glauben bereitet hatte, dass diese ihren Geschmack träfen, sowie das Besteck und setze sich in den dunklen Korbswinger, der die einzige Sitzalternative am kleinen Couchtisch zum Ledersofa war. Er prostete ihr mit der Bierflasche zu. Plötzlich sprang sie noch mal auf, lief zum Telefonanschluss und zog den Stecker.
„muss uns keiner stören! Herzliche Glückwünsche zum Jahrestag“, sagte sie und lachte ihr dunkles, kehliges Lachen. „Ist schon witzig, dass du ausgerechnet zum 13. August wiedergekommen bist.“
„Ja, es gibt wirklich Gründe zum Feiern. Ich wollte weg, ehrlich. Es war alles eingerührt. Ich hab dann plötzlich kehrt gemacht. Es wäre auch die endgültige Trennung von Lothar gewesen.“
„Und von mir natürlich“, ergänzte sie mit einem kleinen, mokanten Lächeln.
Sie schwiegen eine Weile, während sie an ihren Bierflaschen nippten.
„Du solltest dir zur Feier des Tages was von dem Whisky nehmen. Eberhard trinkt ihn nicht und hat ihn mir überlassen. Es ist wesentlich besser als Wodka. Gibt es bei dir was von deiner exklusiven Musik?“, fragte sie nach einer Weile. Sie hatte sich umgesehen und vermisste seine Plattensammlung. Es standen nur noch wenige Ausgaben im Regal.
Wauer holte zwei kleine Gläser, von denen er dachte, dass sie sich für Whisky eigneten, und zündete die dicke Kerze an, die ihm seine Mutter beim letzten Aufenthalt in Großschönau mitgegeben hatte. Sie stammte aus der Oberlausitzer Kerzenfabrik in Ebersbach und stellte angeblich eine Rarität dar. Als er ihr einschenken wollte, lehnte sie ab.
„Ich noch nicht, bitte“, lächelte sie, indem sie an ihm vorbei sah. „Aber koste mal, es ist wirklich was Feines.“
Wauer war irritiert. Wollte sie ihn auf etwas vorbereiten? Er wäre auch ohne Alkohol sofort mit ihr ins Bett gegangen. Er stellte fest, dass seine Gefühle ihr gegenüber keinen Deut gelitten hatten. Er hatte ein gutes Gewissen und musste keinerlei Abbitten leisten, denn schließlich war sie es gewesen, die ihn von einer Sekunde auf die andere verlassen und sich seither nicht mehr gemeldet hatte. Die Gründe hatte Wauer ahnen können, aber keinesfalls verstanden.
Schon wenn sie sich ein wenig auf dem Sofa hin und her räkelte und ihr Busen im Ausschnitt auf und ab quoll, hätte er sofort über sie herfallen wollen. Aber er fühlte, dass dies ein Fehler gewesen wäre und sie sich erst gegeneinander erklären mussten, ehe es vielleicht irgendwie weiter ging.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie ihn mit ihrem typischen, leicht verschleierten Blick, den sie durch ihre halb geschlossen dunklen Lider schickte.
„Nichts. Das heißt, ich werde zur Arbeit gehen. Aber ich werde in der Partei konsequenter auftreten. Was jetzt hier ringsherum im sozialistischen Lager geschieht, ist reichlich widersprüchlich. Und Widersprüche müssen diskutiert werden. Das opportunistische Duckmäusertum der Mehrheit ist schädlich für eine freie Gesellschaft.“
„Das ist richtig!“ Sie lächelte ihr sphinxhaftes Lächeln. „Opportunismus ist das Lebensprinzip. Da sollte man mal ganz konsequent dagegen angehen.“
„Bist du zum Streiten hergekommen? Ich bin froh, dass ich mich jetzt zu etwas durchgerungen habe, das ich für das Richtige halte. Ich glaube auch ziemlich fest, dass es das Richtige ist“, sagte er mit leicht gereiztem Unterton.
„Ist mir schon lieber, als wenn du so ein indolenter Karrierebonze sein wolltest. Obwohl man nicht weiß, was die polnischen Katholiken und die Solidarnosz machen würden, wenn sie an die Macht kämen. War dein Cousin sehr traurig?“
Wauer kostete von dem Balvenie. Es war einfach wunderbar, wie die Blume des Whiskys in seinen Gaumen und in seine Nebenhöhlen wanderte und dann, nachdem er die Probe hinuntergeschluckt hatte, tief in seinem Rachen viele Sekunden melodisch nachbrannte. Wie machten die sowas?
„Danke dir für dein Geschenk“, sagte er, schon froher. „Ja, er war sehr geschafft und wir haben natürlich nochmal lange miteinander geredet. Er ist ein guter Mensch, aber er ist von einem anderen Stern. Ich bin, während ich wartete, dass er endlich in Budapest eintrifft, in Bachs h-moll-Messe gegangen, die sie zufällig in der alten Matthäuskirche aufführten. Da ist mir aufgegangen, dass ich da drüben überhaupt nicht anwurzeln könnte. Obwohl sie sicher das einfachere Leben haben. Und die machen ökonomisch bestimmt weniger Scheiße als wir. Aber ich denke, dass wir hier nach dem Biermann-Rausschmiss nicht mehr nur einfach die Schnauze halten können. Der Sozialismus ist Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber sieht anders aus, als das, was derzeit bei uns läuft.“
Helga Nowak schwieg. Sie nippte wieder an ihrem Bier. Dann sagte sie unvermittelt: „Ich bin schwanger, im dritten Monat, ich weiß es seit vorgestern.“ Dabei schlug sie wie stets in ihrer unnachahmlichen Art die Lider hoch und sah ihn voll an. „Der Vater ist Eberhard.“
Irgendetwas fasste Wauer kalt in die Eingeweide. Er holte tief Luft. Nicht dass er sich schon ein gemeinsames Leben mit ihr vorgestellt hatte. Aber dass sie bereits eine ganz andere Zukunft ins Auge gefasst hatte, ohne ihn, schockierte ihn dennoch zutiefst. Er atmete nochmal tief durch. Dann goss er sich einen zweiten Whisky ins Glas und trank ihn in langsamen Zügen.
„Zufällig oder geplant?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Geplant,“ antwortete sie, atmete ihrerseits heftig ein und aus und fügte hinzu: „Allerdings nur von mir.“
„Wie, nur von dir?“, fragte er noch mal.
„Ich habe gerechnet, gewartet, bis ich maximal empfänglich war, habe Eberhard besoffen gemacht und mich dann von ihm schwängern lassen - ganz einfach.“
Wauer wartete eine Weile. Ihm fiel einfach nicht ein, was er jetzt sagen könnte. „Weiß er es?“, brachte er schließlich heraus.
„Ja klar.“ Und nach einer Pause ergänzte sie: „Er freut sich drauf, sagte er.“
Wauer versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen. Nach dem Geschehen am Heiligen Abend im vergangenen Jahr musste sie davon ausgehen, dass er nicht zu ihr stand, nicht mit ihr zusammenleben und kein Kind mit ihr haben wollte. Dann hatte sie offenbar mitbekommen, dass er sich nach dem Westen absetzen wollte. Alle Gespräche und das gemeinsame Treffen mit Robert während der heißen Warschauer Tage ließen nur diese Vermutung zu. Also entschloss sie sich, indem sie bei ihrem Mann blieb, der einen hohen Posten im Außenministerium hatte und ihr materielle Sicherheit bot, sich das Kind anzuschaffen, das sie wollte. Sie war fast dreißig und für DDR-Verhältnisse ein Altgebärende. Wauer konnte es nachvollziehen und das entschied sein vernünftiges Verhalten für die nächsten Stunden und den Fortgang ihrer beider unvorhersehbaren Zukunft.
Er sagte: „Ist mir, glaube ich, klar, was du willst. Ich hab´s dir nicht gerade leicht gemacht damals. Es war aber auch eine sehr verworrene Situation. Glaub mir, dass ich es auch nicht gerade leicht hatte?“
„Du warst an diesem Abend so eine Enttäuschung für mich, mein Lieber. Es war so klar, dass wir an jenem Christtag hätten ein Kind machen müssen – und du hast geblockt!!“
Sie hatte mein Lieber gesagt, erstmals an diesem Abend. Es war nicht das, was sie sonst alles zu ihm sagte, um ihm ihre Liebe auch verbal zu zeigen, aber es war ein viel versprechender Anfang. Ein Anfang wovon? Von einem Verhältnis zu dritt mit einem Kind, zu welchem sie ihn, er kannte sie, schnellstmöglich