Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
„Ich hab keinen Plan. Erst seit deinem nächtliche Anruf aus Budapest weiß ich, dass es dich wieder gibt. Ich hatte sogar schon mal überlegt, wie ich dich auffinden könnte, falls du im Westen bist. Über deinen Cousin hätte ich das bestimmt ´rausbekommen. Eines Tages hätte ich es probiert. Uns wird was einfallen. Es ist jetzt so vieles in Bewegung.
Ich habe ziemliche Angst vor der Zukunft. Was wirst du tun? Was werden unsere Bonzen machen? Wird es Krieg geben? Wenn sie weiter so stur bleiben und den Doppelbeschluss2 durchsetzen, kann es leicht mal losgehen. Dann wird Mitteleuropa ein atomares Schlachtfeld. Reichlich verrückt, in dieser Zeit noch ein Kind in die Welt zu setzen, nicht wahr?“, sprudelte es aus ihr heraus.
Was weiß ich über sie?, dachte Wauer. Ahne ich auch nur, wie allein sie war? Ich habe mich vor allem mit mir beschäftigt, anstatt mit ihr und dem Sohn.
„Komm, lass uns was trinken und den Rachmaninov anhören, dann geht´s uns besser“, sagte er. „Und uns wird sicher was einfallen. Iss jetzt was! Was darfst du trinken?“
„Na, gib mal bisschen Sekt zum Bier,“ antwortete sie, während er die Schallplatten heraussuchte.
Sie hatte demonstrativ Platz gemacht und ihn aufs Sofa beordert. Nachdem sie ein Schälchen seines Salats und ein halbes Schnittchen vertilgt hatte und er den Sektkorken vorsichtig unter dem charakteristischen Zischen gezogen hatte, sagte sie nach dem ersten Zuprosten übergangslos: „Guck mal, was ich jetzt für geile Titten habe.“
Sie hatte schon immer aufregende Brüste gehabt, aber jetzt, das musste Wauer zugeben, waren sie noch fantastischer. Es wurde für die beiden eine schöne Nacht an diesem einundzwanzigsten Jahrestag des Baus des antifaschistischen Schutzwalls.
Und es war, als wäre dazwischen nichts Böses gewesen.
6.
Im Betrieb ging der alltägliche Trott der sozialistischen Planerfüllung weiter, wie vor Wauers Ungarnbesuch. Er spürte mit seinem Projektierungsteam die Schwierigkeiten, die stündlich dabei auftraten, nicht so hautnah, wie die Tiefbaubrigaden auf der neuen Baustelle am Kraftwerk Berlin-Lichtenberg.
Wie stets, haperte es nicht nur bei der Anlieferung der Baustoffe. Es fehlten oft die Spezialfacharbeiter, weil viele krank feierten; oder die Maschinen streikten, weil Ersatzteile für längere Zeit auf sich warten ließen oder alles auf einmal. Nur manchmal mussten einige Leute von der Projektierungsabteilung raus auf die Baustellen, wo der Hochbau gerade begann, weil es die Abnahmekontrollen erforderten. In den Kollegenkreisen und im Parteilehrjahr unterhielt man sich über die Weltereignisse; natürlich im Stil der Arbeiterdiktatur. Auch dabei nahm das bevorstehende Lutherjahr, die Rolle der Kirchen im Lande und die seltsamen Treffen zwischen Vertretern der Staatsführung und der Kirchenoberen breiten Raum ein.
Im September wurde Helmut Schmidt durch Helmut Kohl als Bundeskanzler abgelöst und plötzlich gab es in der Bundesrepublik eine schwarz-gelbe Regierung, weil das vom aus Halle an der Saale stammenden FDP-Politiker, Hans-Dietrich Genscher, gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler angeschobene konstruktive Misstrauensvotum vom christdemokratischen Herausforderer Helmut Kohl mit immerhin 21 Mehrstimmen gewonnen wurde. Da waren auch in der DDR nicht nur Politiker enttäuscht.
Und noch eine Veränderung erschütterte im Spätherbst 1982 das sozialistische Lager. Am 12. November wurde Juri Wladimirowitsch Andropow, der bisherige langjährige KGB-Chef, zum Generalsektretär der KPdSU für den verstorbenen und nur 13 Monate im Amte waltenden Konstantin Tschernenko bestimmt, der dem ebenfalls soeben verstorbenen vormaligen Parteichef Leonid Breshnew gefolgt war. Nach Andropows Machtübernahme mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Zeit der geistigen und ökonomischen Stagnation in der Sowjetunion vorüber sein könnte. Erstmals im sowjet-kommunistischen Teil der Welt gelangten Informationen über mangelnde Arbeitsproduktivität, niedriges Arbeitsbewusstsein der sowjetischen Werktätigen, Alkoholismus und Kriminalität in die Öffentlichkeit.
Andropow hatte darüber vor hohen Parteifunktionären referiert. Der ökonomische Anreiz für die Betriebe und eine gewisse Eigenständigkeit in Planung, Produktion und Vertragswesen Grundlage müssten erhöht werden, um schnellere ökonomische Erfolge zu erzielen. In der DDR horchten die Direktoren und Generaldirektoren auf und alle waren gespannt, ob von diesen hehren Plänen etwas in die Tat umgesetzt wurde. Denn solche und ähnliche Veränderungen wünschte man sich im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat ebenfalls sehr.
Helga Nowak besuchte Martin Wauer seit ihrer Wiedervereinigung im August an den meisten Wochenenden und mindestens noch einmal in der Woche. Ab Mitte Oktober fiel es ihr zunehmend schwerer, die vier Stockwerke herauf zu seiner Wohnung zu klettern. Sie war zwar eine schlanke Schwangere, aber ihr Bäuchlein war doch erheblich gewachsen und Wauer wunderte sich, wie weit die zarte Haut und das sportliche Gewebe ihres Unterleibes zur Ausdehnung in der Lage war.
Ihrem Liebesleben tat dies keinen Abbruch und der Oberlausitzer genoss zum ersten Mal in seinem Leben ausgiebigen Sex mit einer Schwangeren. Immer, wenn seine Geliebte einen ihrer extraordinären Orgasmen bekam, um die er sie heimlich immer ein wenig beneidete, sonderten ihre dunklen, kräftig veränderten Brustwarzen ein Sekret ab, dass er, wie die Hebammen, als ihre Hexenmilch betitelte. Und sie war eine Hexe, das stand für ihn fest.
Wauer hatte es vermieden, sie zu fragen, wie sie sich ihre weitere, wie er meinte, gemeinsame Zukunft vorstellte, nachdem sie beim ersten diesbezüglichen Versuch ziemlich unwirsch geworden war.
„Sie erst mal zu, was aus deiner Zukunft mit deinem Jungen wird“, hatte sie geantwortet und ihm bedeutet, dass für solcherlei Fragen auch noch Zeit sei, wenn das Kind heil auf die Welt gekommen wäre. Dass es ein gutes, gesundes und kräftiges Kind werden würde, davon war sie zutiefst überzeugt. Jedenfalls war ihr nichts anzumerken von irgendwelchen Ängsten wegen Erbkrankheiten oder Missbildungen.
Bei dem regen Geschlechtsverkehr, den sie miteinander trieben, müsse es einfach ein temperamentvolles und lebensfrohes Kind werden. Zu anderen Zeiten saß sie, wenn sie bei Wauer war, stundenlang ruhig im gut gepolsterten Korbswinger und hörte Musik aus seiner üppigen Plattensammlung, die er vom Boden des Hauses, in dem seine Mutter noch wohnte, zurückgeholt hatte. Er hatte von seinen Ausflügen nach Budapest und Prag stets Ausgaben westlicher Rockmusik mitgebracht, die es in der DDR nur ganz selten legal zu kaufen gab. Dafür leistete er sich hier viele der außerordentlich guten Aufnahmen des klassischen Repertoires, die neuerdings in so genannter DMM-Qualität auf die schwarzen Vinylscheiben gepresst wurden. Helga glaubte, dass Musik jeden Genres förderlich für ihr Baby wäre. Die Wissenschaft war geteilter Meinung, ob Musik überhaupt irgendeine Wirkung auf Föten ausübe.
7.
In Wauers Projektierungsabteilung wie auch in der Kombinatsleitung herrschte nach seiner Rückkehr von seiner einwöchigen Dienstreise in die ungarische Hauptstadt, um die ihn der eine oder andere beneidet hatte, zunächst kollegiale Freundlichkeit und gute Atmosphäre. Wauer erzählte dem Chef Manfred Schäfer, der von allen Leitungsmitgliedern nur „M.S.“ genannt wurde, von seinen Erlebnissen mit den ungarischen Kollegen und unterbreitete seine Arbeits- und Verhandlungsergebnisse. Auch mit anderen Kollegen wurde über Budapest, seine freiheitliche Atmosphäre und seine ziemlich eigenständige Politik im Rahmen des Comecon gegenüber dem Westen diskutiert.
Natürlich fuhren auch andere Ostberliner, so oft es sich bei all den Umständen einrichten ließ, dorthin ein Visum und vor allem Umtauschbescheinigungen für ein paar Forint zu bekommen, gerne in die ein weltoffenes Flair verströmende ungarische Metropole oder an den beliebten Plattensee mit den zahlreichen Weinhöhlen an seinem Nordufer. Gerade auch deswegen waren viele Kolleginnen und Kollegen an den Erlebnissen interessiert, die einer, der sogar auf Betriebskosten dorthin reisen durfte, dabei gehabt hatte. Wauer gab gern und eloquent Auskunft, verschwieg dabei aber vor allem seine Begegnung mit seinem Cousin Robert und seine wilde Nacht mit dieser Susza, der musizierenden Edelnutte, im Rundhotel „International“.
Nachdem seit seiner Rückkehr etwa drei Wochen vergangen waren, geschah etwas, das Wauer innerlich aufhorchen ließ und das er als eher ungewöhnlich einstufte. Er