Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie. Jürgen Ruszkowski

Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie - Jürgen Ruszkowski


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Kriegszeit

      Am 1. August 1914 war der Krieg ausgebrochen. War das eine Aufregung. Blöd war das Gesinge: „Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen.“ Es sollte ein Krieg sein, den man bis Weihnachten beendet haben wollte.

      An einem Abend, es war ein Sonnabend, saß ich in der Zinkbadewanne. Mutter machte das Licht aus und sagte: „Still!“ Über Hamburg brummte tatsächlich ein englisches Flugzeug.

      Weihnachten wurde nun mit dem neuen Erdenbürger gefeiert. Mariechen äugte ganz erstaunt in die Kerzen. Das Fest wurde schon durch die Einberufung meines Vaters zum 23.1.1915 getrübt. Ausgerechnet jetzt, da wir ein neues Familienmitglied hatten, wie sollte es nur werden, wenn der Vater nicht mehr verdienen konnte. Vom Staat wurde dann doch durch Unterhaltszahlung geholfen. Die Kriegerfamilien bekamen eine Kriegsversorgung.

      Die Verluste im Westen wurden immer größer, die Blockade gegen die Wirtschaft immer stärker, und nun wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Die Stimmung war gedämpft. Die Verpflegung bestand hauptsächlich aus Kohl und Steckrüben. Oft bin ich mit einem Henkeltopf gegenüber zu der Badeanstalt gegangen und konnte dort im Keller den Topf mit Kohlsuppe füllen lassen.

      Von Vater hörten wir, er müsse an die Ostfront. In den nächsten Jahren erlebte ich ihn nur mal im Urlaub oder wenn er im Lazarett lag.

       1916-1922

      1916 wurde ich eingeschult. Ich hatte es gut, brauchte nur über die Straße zu gehen und war in der Schule. Diese Schule in der Knauerstraße steht heute noch, sie hat auch den 2. Weltkrieg überdauert. Es war eine Knabenschule.

      Mein erster Eindruck war: Lauter Mütter mit ihren Jungen warteten. Ein älterer Lehrer nahm uns in Empfang und hielt eine Ansprache. Dann ließ er uns die Klappen der Pulte öffnen und wieder schließen. Ganz langsam ging der Lernbetrieb mit den neuen Lesebüchern los.

      Immer, wenn an der Front ein Sieg errungen war, gab es frei, und wir freuten uns. Im Westen tobte die Somme-Schlacht und forderte große Verluste. In Verdun ging es um die Festungswerke. Deutschland machte ein Friedensangebot, das wurde aber abgelehnt. Der Hass zwischen den Völkern war groß, Deutschland sollte nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Völkergemeinschaft aufgenommen werden. Daraufhin wurde der U-Bootkrieg verschärft. Dann fand die berüchtigte Skagerrak-Schlacht statt, wo es weder Sieger noch Verlierer gab. Im November starb der österreichische Kaiser Franz Josef I. Durch unseren Beistandspakt mit Österreich, waren wir in den Krieg hineingezogen worden, ohne zu bedenken, dass eine Welt nur darauf wartete, Deutschland eins auf den Hut zu geben. Bismarck hatte damals vor einem Zweifrontenkrieg gewarnt, aber auf den alten Mann im Sachsenwald hatte ja niemand gehört.

      Das Jahr 1917 sollte ein entscheidendes Jahr für uns Deutsche werden. Amerika trat in den Krieg ein. Noch etwas geschah in dieser Zeit, mit furchtbaren Folgen: Man brachte Lenin und sein Gefolge in einem bewachten Zug nach St. Petersburg, weil man hoffte, damit, den Krieg gegen Russland beenden zu können. Lenins Parole hieß: Alle Macht den Sowjets, den Räten, alles Land den Bauern. In Russland brach die Revolution aus. Der Zar musste abdanken und wurde ermordet. Der Adelsstand sollte vernichtet werden, ebenso alle oppositionellen Kräfte. Ein ungeheures Blutvergießen begann. An der Westfront tobte der Kampf mit unverminderter Härte weiter.

      Doch nun wieder zu meiner Familie. Mein Vater war auf Urlaub da und beaufsichtigte meine Schulaufgaben. Er schimpfte über mein Stottern beim Lesen, und ich bekam eine Kopfnuss. „Was hab ich doch für einen Dummbüdel von Jungen“, sagte er. Na, eine Leuchte war ich in der Schule nicht, obwohl mein Lehrer, Herr Drehsten, sich große Mühe mit mir gab. Er war ein guter Lehrer, der es verstand, uns Pflanzen und Blumen nahe zu bringen, wenn wir mit ihm unterwegs waren. Im Sommer liefen wir meist barfuß, auch zur Schule. Man musste ja sparsam mit dem Schuhzeug sein. Dadurch gab es öfter Verletzungen der Füße.

      Aus welchen Gründen mein Großvater dann zu uns zog, weiß ich nicht mehr. Vielleicht, weil er in der Nähe seinen Berufskeller hatte, wo er sich immer umzog. Wir haben ihn dort oft besucht, Marie in der Karre und ich nebenher. Wahrscheinlich war das Verhältnis zu der Tochter besser geworden. Jedenfalls lernte ich meinen Großvater als einen lustigen Menschen kennen. Wenn wir mal mit ihm unterwegs in einem Lokal einkehrten und dort stand ein Klavier, dann setzte er sich an das Instrument und spielte viele Lieder, alles ohne Noten. Wenn wir ihn in seiner Klause oben auf dem Dachboden besuchten, spielte er auf dem Schifferklavier viele Kinderlieder. Er hatte ja inzwischen dies Dachzimmer über unserer Wohnung bezogen. Er besaß auch eine Zither, auf der versuchte meine Schwester zu spielen. Oft sang er lustige Reime. So zu Beispiel: „Als alte Jungfer sterben, das muss gar schrecklich sein, das kommt von all den Körben, wohl in der Jugendzeit.“ Oder: „Die Zähne, die hat sie vom Zahnarzt...“ Wenn er bei uns in der Küche war, hüpfte er herum und sang: „Wenn ich einmal sterb, sterb, dann sollen mich zehn Jungfern tragen und die Zither schlagen.“ Wir hatten das Empfinden, wenn Vater nicht da war, fühlte er sich unten bei uns wohl. Wenn Vater auf Urlaub war, blieb er meistens in seinem Stübchen oder kam selten zu uns runter.

      Das Verhältnis zu der Großmutter war kühlerer Natur. Meinen Großvater Karl mit dem Barte, den mochte ich gern. Oft hat er mir einen kleinen Wunsch erfüllt.

      Dies Kriegsjahr war schlimm, die Blockade wurde schärfer, ebenso der U-Bootkrieg. An der Front im Westen wurde Giftgas eingesetzt. Die Feinde rollten mit den ersten Panzern über die Schützengräben. In der Heimat wurden Anleihen aufgelegt. Ein Spruch ging um: „Gold gab ich für Eisen.“ Es wurde Gold gesammelt und dafür gab es Eisenplaketten. Die Frauen waren längst in die Wirtschaft eingespannt. Mutter hatte eine Stelle zum Austragen von Zeitungen angenommen. Ich marschierte mit ihr zur Gegend um die Rothenbaumchaussee und half beim Austragen. Es war oft ein mühseliges Geschäft, nachmittags unterwegs zu sein und das bei jedem Wetter. Oft musste ich den weiten Weg nach Hause allein traben. Mutter war schon mit der Straßenbahn gefahren. Es regnete und ich dachte mir, was Mutter kann, kann ich auch. Also auf, in die nächste überfüllte Bahn, und das ohne Geld. Wer aber entdeckte mich da? Mutter! Sie flüsterte mir zu: „Du bist wohl nicht zu retten, du Lausebengel.“

      An der Ostfront wurde es bald ruhig, denn mit Russland begannen Verhandlungen wegen eines Waffenstillstands. Lenin erlangte die absolute Diktatur über Russland. Am 8.06.1918 verkündete Amerikas Präsident, Wilson, ein 14-Punkteprogramm. Für Deutschland zeichnete sich am Horizont langsam eine Niederlage ab. Österreich brach aus der Waffenbrüderschaft aus und nahm die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten an.

      Für uns Kinder wirkte sich die Hungerblockade böse aus. Wir waren alle ziemlich unterernährt. Bei meiner Schwester wirkte sich die Rachitis so aus, dass sie erst sehr spät laufen lernte. Wer war der Leidtragende? Der Bruder musste sie in der Karre spazieren fahren. Manchmal wurde mir das zu dumm. Ich kippte die Karre um, Mariechen lag mit großem Geschrei auf dem Erdboden. Mutter kam in Windeseile angerannt und schimpfte: „Der Bengel ist zu nichts zu gebrauchen.“ Ich aber war frei vom Ausfahren und konnte mit meinen Freunden spielen. Wir hatten etliche Spiele, je nach Jahreszeit. Oft wurde Kriegen gespielt rund um den Häuserblock Knauerstraße – Schrammsweg – Kellinghusenstraße - Goernestraße und zum Anschlagmal wieder zur Knauerstraße. Dann gab es Kreiselspiel und Messersteck. Langeweile kannten wir nicht.

      Am 9. November 1918 war Kriegsschluss. Bei uns in der Goernestraße liefen Matrosen herum und schossen. Wir haben uns versteckt, bis der Aufstand vorbei war. Der deutsche Kaiser musste abdanken und ging mit großem Gepäck nach Holland. Wir Kinder sangen damals oft: „O, Tannenbaum, der Kaiser hat in`n Sack gehau’n.“

      In Versailles wurden Friedensbedingungen ausgehandelt. Die Franzosen kannten kein Pardon gegen Deutschland, der Hass war groß. In den damaligen Bedingungen (8% von Deutschland wurde abgetrennt, Reparationen in unglaublicher Höhe, Danzig als Freistaat mit einem Korridor durch Polen) lag schon der Keim eines neuen Krieges. Was politisch so um uns herum vorging, war uns schnuppe. Wir hatten unsere Kinderwelt. Wir ärgerten die Uddels (Polizisten) beim Ausmachen der Laternen und waren im Herbst oft an der Planke des Bürgermeisterparks und klauten die Birnen vom Spalier.

      In der Schule fiel der Unterricht oft wegen Kohlenmangel aus. Unser Hunger


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