Mississippi-Bilder. Gerstäcker Friedrich
aufzuschreiben und die Zahl der geworfenen Augen dabei zu bemerken. Das Mädchen stand in einer Ecke auf einem zu diesem Zweck erhöhten Platz; um von allen gesehen zu werden, und zwei große, helle Tränen hingen an ihren dunklen, niedergeschlagenen Wimpern.
E i n Herz nur, in all‘ dem Drängen und Treiben, fühlte ihren Schmerz und teilte ihn – es war der bleiche, junge Mann, der, nur wenige Schritte von ihr entfernt, an ein Fenster gelehnt, mit zusammengepressten Lippen und für den Augenblick von Fieberhitze geröteten Wangen, die Arme fest ineinander verschränkt, da stand, vor sich niederstarrte und nur dann und wann schnell und mit einem die höchste Angst verratenden Blick das große, dunkle Auge zu ihr erhob. Als aber das Zeichen zum Anfang gegeben wurde und aller Aufmerksamkeit sich dem Billard zuwandte, als selbst das Opfer einen Moment schüchtern und bebend aufschaute, begegneten sich ihre Blicke; im Nu war er an ihrer Seite und flüsterte ihr, dicht bei ihr vorbeistreichend, zu: „Mut, Selinde, Mut, Du sollst mein werden, und wenn ich Dich aus ihrer Mitte stehlen müsste!“
Ein mattes Lächeln überflog für einen Augenblick das tränenfeuchte Antlitz des armen Kindes, bald aber schwand es wieder, und traurig senkte sie das Köpfchen und weinte still.
Das Spiel hatte unterdessen seinen Anfang genommen; dicht um das Billard gedrängt standen die Teilnehmer, mit gespannter Aufmerksamkeit die rollenden Würfel betrachtend, um schnell die fallenden Augen zu zählen.
„Fünfundvierzig!“, rief Willis, als sein dritter Wurf gefallen war. „Überbietet das, Doktor, wenn Ihr könnt!“
„Nun, ich habe fünf Lose und kann es schon eine Weile mit ansehen“, entgegnete dieser, „aber einmal will ich es doch jetzt auch versuchen.“
Er nahm die drei Würfel in den Becher, schüttelte sie und warf drei Einer.
„Das ist ein guter Anfang!“, rief er ärgerlich, als lautes Gelächter ihn von allen Seiten begrüßte. „Aber lasst nur, für dies erste Los werfe ich nicht mehr; könnte ja so nur, im günstigsten Fall, neununddreißig bekommen – ich will unterdessen eins trinken.“
Er trat vom Billard zurück, andere drängten sich hinzu, und eine Zeit lang herrschte ein gespanntes, ängstliches Stillschweigen, das nur von dem Klappern des Elfenbeins unterbrochen wurde. Der bleiche junge Mann, den niemand im Zimmer zu kennen schien, trat jetzt hinzu und rief mit leiser, aber fester Stimme: „Mir die Würfel!“
Nur schwach war der Laut, mit dem diese Worte gesprochen wurden; wie ein elektrischer Schlag aber durchzuckten sie den Körper des jungen Mädchens, das krampfhaft emporfuhr und mit geöffneten Lippen und angehaltenem Atem aufmerksam dem geringsten Laut horchte.
Einen Blick nur warf der Spieler auf die vorgebeugt lauschende Gestalt, einen anderen an die Decke, wie um da Hilfe zu erflehen, und dann rasselten mit fester Hand die entscheidenden Würfel auf das grüne Tuch – zwei Sechsen und eine Vier. „Sechzehn!“, zählte monoton der Anschreiber. „Noch einmal!“ – Wieder lagen dieselben Augen – zum dritten Mal warf er die Würfel in den Becher, schüttelte und – drei Zweien rollten hervor. „Achtunddreißig! – Schlecht!“, schrie der Ausrufer, und leichenblass trat der Unglückliche vom Billard zurück. Ein anderer nahm seinen Platz ein, und in sich zusammen-schaudernd hielt die Negerin kaum ihre zitternde Gestalt aufrecht; doch ermannte sie sich nach wenigen Augenblicken wieder, und bat mit leiser Stimme einen nicht sehr entfernt von ihr stehenden weißen Mann um ein Glas Wasser.
„Verdamm‘ Dich – hol‘ es selber, glaubst Du, dass ich Dein Nigger7 bin!“, rief dieser, sich unwirsch von ihr abwendend. Ohne ein Wort zu erwidern, schwankte sie zum Schenktisch, nahm ein dort stehendes Glas, füllte es mit dem kühlenden Eiswasser und trank es leer; neu gestärkt hierdurch, schritt sie leichten, fast elastischen Schrittes zu ihrem Platz zurück und barg, an die Wand gelehnt, das Gesicht in ihren Händen: sie nahm sichtbar keinen weiteren Teil an ihrem ferneren Geschick, und nur manchmal, wenn der rohe, freudige Ausruf eines glücklichen Würflers an ihr Ohr drang, schien eine plötzliche Angst ihr ganzes Innere zu durchbeben, und ein leichtes Zittern überflog ihre Glieder.
Wohl eine halbe Stunde mochte das Spiel so ununterbrochen fortgedauert haben und näherte sich jetzt seinem Ende, als der bleiche Mann, der sich auf kurze Zeit entfernt hatte und dem so viel an dem Besitz des jungen Mädchens gelegen zu sein schien, plötzlich zu dem Sklavenhändler wieder herantrat und ihn leise, mit verhaltener, aber zitternder Stimme um ein anderes Los bat.
„Gut, mein Herr, ich habe gerade noch zwei, wollte sie selbst werfen, aber um Ihnen einen Gefallen zu tun, ist hier eins davon“, antwortete dieser artig, „jedoch“, fuhr er, sich höflich verneigend, fort, „werden Sie einsehen, dass ich eine Gelegenheit, mein Eigentum selbst wieder zu gewinnen, nicht ganz umsonst aus den Händen geben sollte – ich kann Ihnen jetzt das Los nur für zehn Dollar lassen.“
„Mann“, fuhr der Unglückliche empor, indem er krampfhaft seine Schulter fasste, „ich habe alles veräußert, was ich bei mir hatte, um die lumpige Summe von fünf Dollar zu erschwingen, und jetzt wollt Ihr zehn; ich habe es nicht, mein ganzes Vermögen besteht in sechs Dollar.“
„Freilich kaum bedeutend genug, ein Geschäft anzufangen“, bedauerte der Yankee, „doch erinnere ich mich, dass mein Bruder Jesaiah einst…“
„Hier ist noch ein Ring“, unterbrach ihn plötzlich der andere, indem er einen einfachen, goldenen Reif von seinem Finger zog, „nehmt und gebt mir ein anderes Los. – Er ist das Doppelte wert“, fuhr er ungeduldig fort, als er sah, dass ihn der Yankee misstrauisch und aufmerksam in der Hand wog und dann betrachtete; es bedurfte jedoch keiner weiteren Beteuerung. Der Sklavenhändler kannte zu gut den Wert des Goldes, um nicht augenblicklich sich überzeugt zu haben, dass der junge Mann die Wahrheit rede, und reichte ihm eins seiner Lose, während er selbst an das Billard trat und seine drei Würfe tat. Das Glück war ihm nicht hold, und ruhig das Resultat des Spiels abwartend, zog er sich in eine Ecke des Zimmers zurück.
Der Doktor hatte jetzt seinen letzten Wurf getan und rief triumphierend: „Sechsundvierzig! – Das Mädchen ist mein!“
„Sechsundvierzig! Bester Wurf!“, schrie der Anschreiber eintönig nach.
„Halt! Ich habe noch ein Los!“ rief jetzt der fremde junge Mann und drängte sich zur Tafel.
„Warum habt Ihr denn da nicht schon lange geworfen?“ entgegnete ärgerlich der Doktor.
„Hatte ich nicht das Recht so gut wie Ihr, bis zuletzt zu warten?“, fragte ihn dieser empfindlich.
„Meinetwegen“, lachte der Doktor jetzt dagegen, „Ihr werft doch keine Sechsundvierzig, und hättet Eure fünf Dollar sparen können, aber halt!“, rief er aus und erfasste den Arm des jungen Mannes, der eben würfeln wollte. „Die Dirne gefällt mir, sie hat ein verdammt hübsches Gesicht – ich gebe Euch fünfzig Dollar, wenn Ihr zurücktretet.“
„Die Würfel mögen entscheiden!“ rief der junge Fremde, indem er sich von der Hand des Doktors losmachte und ihm für einen Augenblick das Blut so in die Schläfe trat, dass es ihm die Adern zu zersprengen drohte, in derselben Minute kehrte es aber zu seinem Herzen zurück und ließ nicht einen Tropfen in seinen Wangen. Die Würfel rasselten und eintönig zählte der Wirt die Augen.
„Siebzehn!“
„Beim Himmel, ein guter Wurf!“, riefen alle, die jetzt mit gespannter Erwartung die grüne Tafel umstanden.
Wieder rasselten die verhängnisvollen Stücke Elfenbein in dem ledernen Becher. Totenstille herrschte und aller Augen hingen an der Hand des Werfenden, während das arme, geängstigte Mädchen betend in die Knie gesunken war und ihr Gesicht mit den Händen bedeckt hielt. Ihr verhaltenes Schluchzen war das Einzige, was die grabesähnliche Stille unterbrach. Die Würfel lagen.
„Siebzehn! Noch einmal!“
„Verdammt!“, brummte der Doktor.
„Den dritten Wurf, den dritten Wurf!“ riefen alle ungeduldig, als sie sahen, dass der Fremde ängstlich sinnend einen Augenblick einhielt. Fast krampfhaft fasste er zweimal den Becher, jedes Mal wie zusammenschaudernd