Nach Amerika! Bd. 1. Gerstäcker Friedrich
Zeit gehen.»
«Hm – ist noch verdammt weit, puh, wie das draußen stürmt; und die Pflaumenblüten pflückt’s beim Armvoll herunter – Pflaumenmus wird teuer werden nächsten Herbst.»
«Das weiß Gott», sagte Gottlieb, «es wird alles teurer, immer mehr jedes Jahr, langsam aber sicher.»
«Bah, es geschieht denen recht, die hier bleiben, wenn sie nicht hier bleiben müssen; ‘s gibt Plätze, die besser sind.»
«Wollt Ihr auch auswandern?» sagte Gottlieb rasch.
«Auswandern? – Nach Amerika? Hm – ich weiß noch nicht», brummte der Fremde, sich den Bart streichend. «Es wäre aber möglich, daß sie einen noch dazu trieben. Sind das Eure Kinder?»
«Ja.»
«Habt Ihr noch mehr?»
«Noch einen Jungen von elfundeinhalb Jahr.»
«Und Ihr seid ein Weber?» sagte der Fremde mit einem Blick auf den Webstuhl. «Auch schwere Zeiten für derlei Arbeit, mit einer Familie durchzukommen.»
«Jawohl, schwere Zeiten», seufzte Gottlieb, als in diesem Augenblick die Tür draußen wieder aufging und die Mutter laut ausrief:
«Der Hans, lieber Himmel, kommt der in dem Wetter!»
Es war Hans, der älteste Sohn des Webers, durch und durch naß, aber mit frischem, gesunden Gesicht und roten Backen, auf denen das Regenwasser in großen Perlen stand.
«Guten Tag miteinander», sagte er, als er ins Zimmer trat und die triefende Mütze vom Kopf riß. «Guten Tag, Mutter.»
«Guten Tag, Hans, aber wo um Gotteswillen kommst Du in dem Regen her? Warum hast Du das Wetter nicht bei Lehmanns abgewartet?»
«Es wurde mir zu spät, Mutter, und ich war hungrig geworden; habe auch noch heut Abend dem Vater etwas zu helfen.»
«Ein derber Junge», sagte der Fremde, der sich den Knaben indes mit finsterem Blick betrachtet hatte. «Kann wohl schon ordentlich mitarbeiten?»
«Ach ja, er packt tüchtig mit zu», sagte der Vater. «Lieber Gott, in jetziger Zeit muß alles mit Brot verdienen helfen.»
«Die Kinder fressen einen arm», sagte der Fremde.
«Habt Ihr Kinder?» frug Gottlieb.
«Ich ? – Hm, ja», sagte der Fremde nach einer Pause, «könnte noch jemandem davon abgeben.»
«Ich möchte keins hergeben», sagte die Frau rasch und küßte das Jüngste, das sie eben wieder aufgenommen hatte, um es zu füttern. «Kinder sind ein Segen Gottes.»
«Ja – so sprechen die Leute wenigstens», sagte der Fremde trocken. «Aber ich glaube, es läßt nach mit Regnen; ich werde die Schenke wohl jetzt erreichen können.»
«Wollt Ihr nicht vielleicht erste eine Tasse heißen Kaffee trinken?» frug die Frau, das Kind auf dem linken Arm, zum Ofen gehend, um die warmgestellte Kanne wieder vorzuholen.
«Danke, danke», sagte der Fremde abwehrend. «Kann das warme Zeug nicht vertragen; ein Glas Branntwein ist mir lieber.»
«Das tut mir leid», sagte der Mann, «den kann ich Euch nicht anbieten, ich habe keinen im Hause.»
«Tut auch nichts», sagte der Mann, «so lange halt’ ich’s schon noch aus. – Sind doch hilflose Dinger so junge Menschen, ehe sie die Kinderschuhe ausgetreten haben», setzte er dann hinzu, als das Jüngste das Mäulchen nach dem schon einmal gereichten Löffel vorstreckte, «was machte nun so ein jung Ding, wenn man es hinsetzte und sich selber überließe.»
«Ach Du lieber Gott», sagte die Frau bedauernd, «so ein armer Wurm müßte ja elendiglich umkommen!»
«Bis den Nachbarn das Geschrei zu arg würde, und sie kämen und es fütterten», lachte der andere.
«Dafür haben die Kinder Eltern», sagte die Frau, das kleine, die Ärmchen zu ihr ausstreckende Mädchen liebkosend und küssend, «die sorgen schon dafür, daß kein Nachbar danach zu sehen braucht.»
«Wenn die aber einmal plötzlich sterben, wie dann?» frug der Fremde mit einem Seitenblick auf die Frau, indem er seinen Rock wieder zuknöpfte und sich zum Gehen rüstete.
«Dann ist G o t t im Himmel», sagte Hanne mit einem frommen, vertrauensvollen Blick nach oben.
«Ja, das ist wahr», sagte der Fremde mit einem leichtfertigen Lächeln, «der hat allerdings die große Kinderbewahranstalt. Aber es hat wirklich mit Gießen aufgehört», unterbrach er sich rasch, «den Augenblick will ich doch lieber benutzen. So, schön Dank für gegebenes Quartier, Ihr Leute, und gut Glück.»
«Bitte, Ihr habt für nichts zu danken; behüt’ Euch Gott», sagte Gottlieb freundlich.
«Behüt’ Euch Gott», sagte auch die Frau, und der Mann, ihnen noch einmal zunickend, nahm draußen wieder den nassen Mantel um, drückte sich den breiträndigen Hut in die Stirn, griff einen derben Knotenstock, der daneben in der Ecke lehnte, auf und verließ rasch das Haus, die Richtung nach der Schenke einschlagend.
«Mich freut’s, daß er fort ist», sagte die Frau, die dem Knaben gerade das Essen auf den Tisch setzte und den Kaffee einschenkte. «Bewahr’ uns Gott, was hatte der Mann für ein finsteres Gesicht und ein barsches Wesen; nicht schlafen könnt’ ich die Nacht, wenn ich den unter einem Dach mit mir wüßte. In dem Gesicht lag auch nichts Gutes – und wie er fluchte und über die Kinder sprach! Ob er nur wirklich selber welche hat?»
«Er sagt’s ja», bestätigte Gottlieb, «aber mir schien’s ein Fleischer zu sein, seinem Gewerbe nach, und die sind immer rauh und derb, meinen’s aber nicht immer so bös.»
«So bess’re ihn Gott», sagte die Frau mit einem Seufzer, «und je seltener er unseren Weg kreuzt, desto besser.»
* * *
Siebtes Kapitel
Nach Amerika.
«Nach Amerika!» – Leser, erinnerst Du Dich noch der Märchen in ,Tausendundeine Nacht’, wo das kleine Wörtchen ,Sesam’ dem, der es weiß, die Tore zu ungezählten Schätzen öffnet? Hast Du von den Zaubersprüchen gehört, die vor alten Zeiten weise Männer gekannt, um Geister aus ihrem Grabe heraufzurufen und die geheimen Wunder des Weltalls sich dienstbar zu machen? – Mit dem ersten Klang der einfachen Silbe schlugen, wie sich die Sage seit Jahrhunderten im Munde des Volks erhalten, Blitz und Donner zusammen, die Erde zitterte, und das kecke, tollkühne Menschenkind, das sie gesprochen, bebte vor der furchtbaren Gewalt zurück, die es heraufbeschworen.
Die Zeiten sind vorüber; die Geister, die damals dem Menschengeschlecht gehorcht, gehorchen ihm nicht mehr, oder wir haben auch vielleicht das rechte Wort vergessen, sie zu rufen – aber ein anderes dafür gefunden, das, kaum minderstark, mit e i n e m Schlage das Kind aus den Armen der Eltern, den Gatten von der Gattin, das Herz aus allen seinen Verhältnissen und Banden, ja aus der eigenen Heimat Boden reißt, in dem es bis dahin mit seinen stärksten, innigsten Fasern treulich festgehalten.
«Nach Amerika!» Leicht und keck ruft es der Tollkopf trotz der ersten schweren, traurigen Stunde entgegen, die seine Kraft prüfen, seinen Mut stählen sollte. – «Nach Amerika!» flüstert der Verzweifelte, der hier am Rand des Verdeerbens dem Abgrund langsam, aber sicher entgegengerissen wurde. – «Nach Amerika!» sagt still und entschlossen der Arme, der mit männlicher Kraft und doch immer und immer wieder vergebens gegen die Macht der Verhältnisse angekämpft, der um sein ,tägliches Brot’ mit blutigem Schweiß gebeten – und es nicht erhalten, der keine Hilfe für sich und die Seinen hier im Vaterland sieht, und doch nicht betteln w i l l, nicht stehlen k a n n. – «Nach Amerika!» lacht der Verbrecher nach glücklich verübtem Raub, frohlockend der fernen Küste entgegenjubelnd, die ihm Sicherheit bringt vor dem Arm des beleidigten Rechts.