Vom Werden eines Diakons - Rückblicke - Teil 3. Jürgen Ruszkowski
führe während der Ausbildungszeit über Jahre hinweg Tagebuch, nicht regelmäßig und oft mit größeren Unterbrechungen. Diese Aufzeichnungen sind in der Sprache des 19-22jährigen Jünglings in der seinerzeitigen Gedanken- und Erlebniswelt verfasst. Ich habe sie mit nur geringfügigen redaktionellen Änderungen hier wiedergegeben, weil sie große Aussagekraft über mein damaliges Befinden haben. Als ich sie nach Jahrzehnten wieder lese, bin ich selber über manche Passagen erstaunt. Ihre Lektüre nach meiner Pensionierung gibt mir auch den Impuls, mir über meinen gesamten Lebensablauf Rechenschaft abzulegen und diese Autobiographie als Selbstreflexion zusammenzutragen. Als Opa kann ich meinen Nachkommen damit aus vergangenen Zeiten erzählen und ein Stück Zeitgeschichte verständlich machen und vielleicht auch einigen Freunden aus jenen Jahren gemeinsame Erlebnisse in Erinnerung rufen. Den Anstoß, diese alten Aufzeichnungen aus dem verstaubten Karton im Keller auszupacken, liefert das Referat des Professors und Konrektors der Fachhochschule des Rauhen Hauses, Wolfgang Braun, anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Fachhochschule und der darauf folgenden Leserbriefreaktionen der Brüder Lothar Borowski, Norbert Mieck, Gert Müssig, Horst Schönrock, Erhard Schübel, und Peter Stolt, im Boten der Brüder- und Schwesternschaft, in denen auch dazu aufgerufen wird, die Ereignisse der damaligen Zeit aufzuarbeiten und zu hinterfragen, solange noch Zeitzeugen leben.
Der Prozess des Suchens, des Ringens mit sich und der Umwelt, der langsamen Reifung des jungen Diakonenschülers wird in diesen Tagebuchaufzeichnungen deutlich:
Am 19. Juli 1954 notiere ich: „Die Zeit verrinnt wie im Fluge. Über drei Monate bin ich schon im Rauhen Haus und rechne mich bereits zum Stammpersonal. Ich habe mich eingelebt und kenne die guten und auch die schlechten Seiten der Anstalt. Ideal kann das Rauhe Haus gar nicht sein, denn nichts Menschliches ist vollkommen, aber das ist eine Selbstverständlichkeit. Wie sagt doch August Füßinger?: „Es menschelt überall!“ Jedenfalls fühle ich mich hier ganz wohl. Einiges ist natürlich auch zu bemängeln. Vor allem fehlt mir die geistliche Gemeinschaft unter den Brüdern. Wir auf unserer Stube, überhaupt in unserer Klasse, kommen gut miteinander aus. Es ist doch meistens mehr Kameradschaft als Bruderschaft. Es gibt aber auch einige Brüder, bei denen man wirklich etwas von Bruderschaft spürt. Das Rauhe Haus erscheint mir zu wenig als Anstalt der Kirche, zu wenig Werk der Gemeinde Jesu Christi. Es nennt sich „christliches“ Internat, ist jedoch durch und durch traditionelle konservative autoritäre Verwahr- und Drillanstalt. Vor allem darf ich selber nicht abstumpfen, verknöchern und verkalken! Ich muss mir die jugendhafte Frische erhalten, die ich aus der Jugendarbeit mitgebracht habe, ebenso die Selbstzucht und vor allem muss ich festhalten am Bekenntnischristentum, das uns im Osten geschenkt wurde. Kein Glaube ohne Tat und keine Tat ohne Glauben!“
Am Grundbergsee
Das Rauhe Haus entsendet mich zu meinem ersten praktischen pädagogischen Einsatz zu Bruder Fritz Drephal, einem begnadeten herzensguten älteren Diakon, der in Bremen als altgedienter Gemeindediakon arbeitet und in einem gemeindeeigenen Freizeitheim am Grundbergsee eine Sommerfreizeit leitet. Man kündigt mich dort an:
„...werden wir Bruder R., der sich bisher gut gemacht hat und auch in seiner ganzen Haltung einen ordentlichen Eindruck macht, freistellen...“
Ich notiere im Tagebuch:
Hamburg, am 23. Juli 1954: „Morgen geht’s auf Fahrt. Nachdem es zunächst bereits vor zwei Wochen losgehen sollte und dann verschoben wurde, starte ich nun morgen. Der Rucksack ist gepackt. Ich weiß zwar nicht, wie lange, ob nur bis Ottersberg oder in die Rhön, aber ich bin voller Vorfreude und Tatendrang.“
Dodenberg, am 25. Juli 1954: „Zwei Tage bin ich nun hier auf dem Dodenberg. Ich glaubte immer, Jugendarbeit wäre mein Fall, aber leider muss ich feststellen, dass ich - wie es bisher aussieht - dafür nicht die geringste Eignung habe. Es mag ja sein, dass es besser wird, wenn die Jungen kommen. Bis jetzt sind ja hauptsächlich Mädchen hier. Mir fehlt der Schwung, sportliches Können. Vor allem plagt mich mein altes Leiden: Meine Zunge kommt nicht recht in Bewegung. Möge mir die Kraft für diesen für mich schweren Dienst geschenkt werden!“
27. Juli 1954: „Gestern machten wir eine Schnitzeljagd. Ich war mit der Aufsicht betraut. Durch unglückliche Umstände kam das Spiel zu keinem guten Abschluss. Die suchende Gruppe teilte sich, und alle kamen kleckerweise nach Hause. Kein gutes Zeichen für mich als Leiter! Dagegen habe ich gestern Abend mit den großen Mädchen und einigen Jungen gut zurechtkommen können. Wir haben in den Sanddünen im Wald rumgetollt. Die Bibelarbeit, die ich heute Morgen mit den kleinen Mädchen hielt, wurde verhältnismäßig lebhaft aufgenommen. Als ich zum Schluss anfing, theologisch zu werden, schalteten sie ab. - Bruder Drephal und Frau sind fabelhafte Heimeltern, zu den Kindern und Mitarbeitern in gleicher Weise. Nur schade, dass ich ihnen wegen meiner mangelhaften Fähigkeiten nicht vollkommenere Hilfe sein kann.“
4. August 1954: „Meine Zeit hier in Ottersberg ist nun bald zu Ende. Es geht mit der Arbeit besser als in der ersten Woche. Das mag vor allem daran liegen, dass jetzt statt der Mädchen Jungen hier sind. Ich komme mit den Jungen besser zurecht. Aber ideal ist meine Arbeit bestimmt nicht. Das eine steht fest: Wenn ich mich nicht gewaltig ändere, hat es gar keinen Zweck, später einmal in die Gemeinde- oder Jugendarbeit zu gehen. Ich habe mir in diesen Tagen viele Gedanken darüber gemacht, ob ich nicht doch ganz in die Krankenpflege überwechseln soll, bin aber bisher noch zu keinem festen Entschluss gekommen. Ich weiß nicht, ob ich nicht noch Fähigkeiten für die Wohlfahrtspflege habe oder ob ich noch pädagogische Fähigkeiten entwickeln werde. Bis zu einer notwendigen Entscheidung habe ich aber noch Zeit. - Heute war ein Oberprimaner, namens Klaus, aus Bremen hier, der hier schon öfter als Helfer tätig war. Er hat gute Begabung zur Jugendarbeit und auch sonst schwer was auf dem Kasten. Man merkt doch sehr stark den geistigen Unterschied zwischen so einem Intellektuellen und einem „Proletarier“, wie ich einer bin. Was fünf Schuljahre mehr doch ausmachen! Ich muss immer mit aller Gewalt die Minderwertigkeitskomplexe abschütteln, wenn ich mit solchen Leuten zusammenkomme. Das ging mir in Schwerin auch immer so, wenn ich dort mit den Pennälern aus unseren Jugendkreisen zu tun hatte. Ich will mich so nehmen, wie der liebe Gott mich geschaffen hat und ihm meine bescheidenen Gaben im Dienst zum Opfer bringen.“
5. August 1954: „Heute Abend veranstalteten wir ein Lampionfest. Zwischen den Häusern auf dem Hof hatten wir Papierlaternen aufgehängt. Darunter saßen wir und sangen Volkslieder und zum Schluss noch die alten Schlager „Owambo“, das Lied vom „Harung“ und das Trojalied. Von Letzterem waren die Gören ganz begeistert, das erstemal, dass ich sie beim Singen mitriss. - Als ich anschließend im Schlafsaal bei den großen Jungen schließen wollte, musste ich einen zu Herrn Drephal schicken. Dann wurde es ruhig. Sie müssen auch mal spüren, dass man konsequent ist. Jetzt ist es 22.30 Uhr. Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme.“
Drephal telegraphiert ans Rauhe Haus:
„Freizeit dauert bis 21. August. Ich bitte, Ruszkowski behalten zu dürfen.“
6. August 1954: „Morgen sollte meine Zeit hier eigentlich zu Ende sein. Zwei Wochen wäre ich dann hier. Bruder Drephal meinte, er wolle mal mit „Augusten“ (Füßinger) sprechen. Dann berichtete er mir, August hätte eingewilligt, mich vorläufig noch hier zu lassen. Dass Bruder Drephal mich noch behält, ist ja ein Zeichen dafür, dass ich ihm - wenigstens eine kleine Hilfe bin. Ich merke auch: Es geht allmählich besser mit der Arbeit. Also macht Erfahrung doch allerhand aus - die sammele ich hier auf alle Fälle. Aber alle Begabung und alles Können sehe ich in erster Linie als Geschenk Gottes an.“
21. August 1954: „Heute sind die Jungen abgefahren. Morgen wird auch für mich der Tag gekommen sein, an dem ich wieder ins Rauhe Haus zurückfahren werde. Dieser erste „größere Einsatz“ verlief nicht zu meiner Zufriedenheit. Ich hatte ihn mir doch etwas anders vorgestellt. Mir fehlen jegliche pädagogische Fähigkeiten. Ich bin beim Ballspielen eine große Null. Wenn es manchmal auch fabelhaft ging, so dauerte es nicht lange, bis wieder eine Pleite kam. Ich habe mir die größte Mühe gegeben, Herrn Drephal zu helfen, so gut ich konnte, aber es kam wohl nicht allzu viel dabei heraus. In der letzten Woche ging es mit den Jungen auch nicht mehr so gut, wie im Anfang. Ich bin mir nur nicht ganz darüber klar, ob der Grund meines Versagens darin liegt, dass ich für diese Arbeit noch nicht reif