Kein Duke zum Verlieben!. Katherine Collins
Woolhead, Cornwall, einige Tage später
Erschöpft von seiner langen Reise glitt Nathan Mannings von seinem Rappen und übergab die Zügel dem herbeieilenden Stallburschen. Müde schleppte er sich in das alte Haus, das ihm seine Großmutter mütterlicherseits vermacht hatte. Wehmütig erinnerte er sich an die Zeit, die er als Kind und als Jugendlicher hier verbracht hatte, und fühlte eine immense Erleichterung, endlich wieder hier zu sein. Reumütig bat er den überraschten Butler, seiner Frau seine Anwesenheit zu melden und nahm sich verspätet vor, sie so rücksichtsvoll wie möglich zu behandeln. Unbehaglich versteifte sich der Butler, der erst seit sechs Jahren auf Woolhead arbeitete und daher seine Gnaden nicht besonders gut kannte.
»Ihre Gnaden ist nicht im Haus, Euer Gnaden. Wünschen Sie einen kleinen Imbiss einzunehmen?«
Gedankenverloren stimmte Nathan dem Vorschlag des Bediensteten zu und machte es sich in seinem hiesigen Arbeitszimmer bequem. Alles war unverändert. Ein Schauder überlief ihn, als er sich langsam in seinen alten Lehnstuhl niederließ und die Beine hochlegte. Als er erwachte, stand neben ihm ein kalter Imbiss, den er zügig verzehrte. Steif von seiner unbequemen Schlafposition streckte er die Glieder und beschloss, erst einmal ein langes Bad zu nehmen und sich herzurichten, bevor er seiner Frau unter die Augen trat. In der Eingangshalle wurde er von einer Frauenstimme abgelenkt und überdachte sein Vorhaben in Millisekunden. Er hatte so lange nicht in ihr herrliches Antlitz geschaut, so nah bei ihr wollte er einfach nicht weiter warten.
Schnellen Schrittes stürmte er in den Salon und stoppte bei den überraschten Ausrufen der beiden Damen, die sich auf ihren Sitzplätzen zu ihm umgedreht hatten. Schnell stand die Ältere auf und versank in einen tiefen Knicks. Die Jüngere folgte ihr anmutig und warf ihm unter gesenkten Lidern kokette Blicke zu. Lynette. Er hätte sie überall wiedererkannt. Was suchte die Dowager Marchioness of Lynnwood im Salon seiner Frau?
»Madame«, grüßte er die Besucherin knapp und wendete sich dann der Gesellschafterin seiner Duchess zu. »Mrs. Durham, wie geht es Ihnen? Wo befindet sich meine Frau?«
Nathan entschied, dass er weder Zeit noch Muße für Förmlichkeiten hatte. Mrs. Durhams schreckhaft geweitete Augen ließen ihn nichts Gutes ahnen. Schnell bedeutete er ihr zu schweigen und wandte sich seiner Jugendliebe zu.
»Madame, ich war lange abwesend und möchte mich im Kreise meiner Familie eingewöhnen …«
Lynette lachte glockenhell auf. Schnell trat sie zu ihm, um ihm eine gazebezogene Hand auf die Brust zu legen und schmachtend zu ihm aufzusehen. »Nathan, Liebster, es ist so lang her …«
Ungeduldig schob er sie von sich und bat sie noch einmal zu gehen, was sie allerdings mit einem schadenfrohen Gesicht quittierte.
»Sei kein Narr, Nathan, würde ich dich so unverblümt ansprechen, wenn deine Gattin im Hause wäre?«
»Was soll das heißen? Mrs. Durham, wo ist meine Gemahlin?« Unter Nathans brennendem Blick zuckte die Gesellschafterin zusammen und brachte nur ein jammerndes Schluchzen zustande.
»Sie ist weg«, informierte ihn Lynette und setzte ein bedauerndes Gesicht auf. »Sie hat dich verlassen. Sie ist zu ihren Verwandten gezogen, ich glaube nach London …«
Mitfühlend schmiegte sie sich wieder an ihn und rieb tröstend über seine Brust. Nathan achtete nicht auf ihre zärtliche Geste, sondern starrte auf ein Bild, das über dem großen Kamin hing und unverkennbar Miss Bell Beaufort abbildete.
»Bell«, flüsterte er fassungslos und schob Lynette grob von sich. Auf dem Absatz machte er kehrt und ließ sich vom verdutzten Stallmeister sein Pferd geben. Nathan freute sich ganz und gar nicht über seine Entdeckung und trieb seinen Rappen zu halsbrecherischer Geschwindigkeit an.
Gasthof „Queen Anne“, Nahe Rhy, Hochzeitsnacht, 27. August des Jahres 1789
Erst einige Stunden, nachdem Nathan die Kutsche verlassen hatte, und es bereits dunkel wurde, hielt die Barouche vor einem Gasthof. Annabell sehnte sich mit jeder Faser ihres überstrapazierten Körpers danach, der bedrückenden Einsamkeit des Gefährts zu entkommen. Auch wenn dies hieß, sich mit ihrem frisch angetrauten Ehemann befassen zu müssen. Dankbar ergriff Annabell die Hand ihres Gemahls und trat vorsichtig aus dem bedrängenden Innenraum der Kutsche. Sie fühlte sich elendig und war sich noch nicht ganz sicher, ob nur ihr physischer Zustand dazu beitrug oder ob ihre düsteren Gedanken ihre Gefühlslage zusätzlich belasteten. In den letzten höllischen Stunden, die sie allein in der schwankenden Kutsche verbracht hatte und in denen sich der durch Laudanum induzierte Dunstschleier in ihrem Kopf langsam auflöste, hatte sie versucht, sich ihre aussichtslose Situation begreiflich zu machen.
Nur zu deutlich erinnerte sie sich an die Nacht, die ihr diese Reise beschert hatte und an die darauf folgenden Tage, in denen sie Lord Windermere angefleht hatte, die Hochzeit abzusagen. Nathan führte sie schweigend in das Separee der Raststätte und bedeutete ihr, sich in einen der Sessel niederzulassen. Er hatte bereits ein Abendmahl und ein Zimmer für sich und seine Braut geordert und setzte sich seiner steifen Angetrauten gegenüber. Die Stunden, die er auf seinem Pferd verbracht hatte, hatten seine Laune nicht verbessert, und Annabells beständiges Schweigen zerrte zusätzlich an seinen Nerven. Still nahm sie das angebotene Getränk entgegen und nahm einen tiefen Schluck von dem schweren Wein. Sehnlichst wünschte sie sich eine weitere Portion des Betäubungsmittels, mit dem sie am Morgen ruhiggestellt worden war. Da sie aber nicht annahm, dass Nathan das Opiumderivat in seinem Handgepäck mit sich führte, hielt sie sich an den Wein und bat um einen Nachschank.
Sie verweigerte das Essen, was Nathan stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm. Soweit er sich erinnerte, hatte sie auch bei dem Bankett nichts gegessen, und ihr schmaler Körper schien jeden Bissen gut gebrauchen zu können. Er forderte sie auf, zumindest die Suppe zu probieren, und schob ihr einen gut gefüllten Teller hinüber. Zittrig nahm sie gehorsam ihren Löffel auf und tunkte ihn zögerlich in die zähe Flüssigkeit. Allein der Gedanke, etwas von der Brühe zu sich nehmen zu müssen, ließ sie würgen. Langsam senkte sie den Löffel wieder und sah ihren Mann flehend an.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie leise und brach in Tränen aus. Schnell verbarg sie ihr Gesicht vor ihm, indem sie sich abwendete und mit ihren Händen die Tränen wegwischte. Nathan betrachtete das aufgewühlte Mädchen nachdenklich. Die Annahme, dass Annabell ihn absichtlich zu sich gelockt hatte und ihre Tante sie mit ihm erwischen sollte, erschien angesichts ihres momentanen Unglücks nahezu undenkbar. Langsam legte er sein Besteck beiseite und stand zögernd auf.
»Annabell, ich weiß nicht, was es ist, das dich belastet, bitte denk darüber nach, ob du dich mir nicht anvertrauen möchtest.«
Vorsichtig griff er nach ihrer Schulter und spürte, wie sie augenblicklich zusammenzuckte. Langsam zog er die Hand wieder fort. Mühsam hielt er seinen aufflackernden Zorn im Zaum. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, sich seine Hochzeitsnacht vorzustellen, da er bisher davon ausgegangen war, nie eine erleben zu müssen. Dennoch war ihm klar, dass sie so, wie seine gerade verlief, nicht hätte sein sollen. Er schloss zähneknirschend die Augen und sagte sich, dass Annabell einfach überspannt war. Sie lehnte ihn nicht ab oder spielte Spielchen mit ihm, um wer weiß welche Ziele zu verwirklichen. Sie war einfach nur aufgeregt, so wie es einer jungen Braut geziemte. Der Umstand, dass er sie bei ihrem letzten Zusammentreffen anscheinend sehr erschreckt hatte, milderte seinen Zorn und ließ Nathan neben seiner Braut auf die Knie sinken.
Langsam drehte er sie zu sich um und fing ihre Hände ab, die immer noch bemüht waren, die immer wieder aufkommenden Tränen wegzuwischen. Verängstigt sah sie ihn an und erwartete ihre Bestrafung für ihren Ungehorsam.
»Annabell, ich weiß, dass du sehr aufgeregt sein musst, trotzdem solltest du versuchen, etwas zu essen. Du wirst deine Kraft noch benötigen.«
Die ungewollte Implikation auf die kommende Nacht ließ Nathan innehalten und Annabell erröten. Lady Windermere hatte sich nicht die Mühe gemacht, der Nichte die Vorgänge der Hochzeitsnacht zu erläutern. Wozu auch, da sie die Brautleute schließlich bereits bei eben diesen Aktivitäten erwischt hatte. Trotzdem war sich das Mädchen bewusst, was für intime Forderungen ihr Ehemann an sie stellen würde, sobald sie sich zurückzogen.