Herzkalt. Joachim Kath
zu suchen, im Central Park? Oder wo?“ fragte Judith sarkastisch.
„Ich werde mir einen Plan machen! Wahrscheinlich werde ich mit den Fluggesellschaften beginnen und nach den Passagierlisten von jenem Montag fragen, an dem die Mädchen angeblich losgeflogen sind. Dann werde ich in der Highschool jeden unter die Lupe nehmen, der im letzten Vierteljahr und vor diesen Ferien, an die sich dann das Examen anschließt, auch nur ein Wort mit den Zweien gewechselt hat. Und ich werde jeden fragen, der sie kennt, ob sie mit jemand gesehen wurde, der nicht zu ihrer Clique gehört.“
„Was ist, wenn du dich einfach in deiner Firma krank meldest?“ fragte Judith, die meinen Entschluss zu impulsiv fand und vermutlich auch wegen des fehlenden Einkommens in Sorge war.
„Sie werden mich besuchen kommen, dauernd anrufen, wo etwas liegt, Atteste verlangen. Ich fühle, dies hier wird eine längere Sache sein, ein paar Monate vielleicht, oder sogar ein Jahr. Mein Leben wird sich total verändern. Am besten du ziehst für die Zeit zu deinen Eltern nach Neuengland.“
„Neuengland sagst du ja nur, weil du Massachusetts nicht aussprechen kannst!“
„Ich werde nachts weg sein und tags schlafen, ich werde müde, unrasiert, übellaunig sein – ich möchte nicht, dass du mich so siehst und ich möchte nicht, dass die im Büro mich so sehen“.
„Ich kann dir helfen. Wir können das ganze Projekt gemeinsam durchziehen. Warum willst du nicht, dass ich dir helfe“? fragte Judith beleidigt.
„Ich werde dich ab und zu anrufen. Das verspreche ich. Aber es ist besser, wenn du nicht in dieser Stadt bleibst. Ich muss mich konzentrieren, darf keine Rücksicht nehmen müssen. Es wird keine geregelte und regelmäßige Arbeit sein. Sie wird gefährlich sein, vielleicht hinterhältig, ich muss frei Hand haben, ein Spiel zu spielen, dessen Regeln ich noch nicht kenne“.
Abschiede sind entsetzlich. Man ist so sprachlos und wenn man etwas sagt, klingt es so hohl. „Pass gut auf dich auf“, sagte Judith am Morgen von Dorothys Beerdigung, als wir uns am Zug nach Boston voneinander verabschiedeten. „Du auch“! sagte ich und empfahl ihr, keiner Menschenseele ihren Aufenthaltsort zu verraten, obwohl ich wusste, dass die Wohnungen von engen Verwandten zum Wegtauchen völlig ungeeignet sind.
Uns beide hatte die Reaktion der Schneyders, Dorothys Eltern, tief erschüttert, auch wenn wir dafür Verständnis hatten. Er sprach ziemlich unreflektiert von der Todesstrafe und sie davon, ihre Tochter schon immer vor dem Umgang mit unserer Jane gewarnt zu haben. Sie fingen an, für das furchtbare Geschehen Schuldige zu suchen, die sie kannten. Wir hatten uns nur stumm angeblickt und uns nicht verteidigt.
Wie sollte ich mit der Suche nach Jane beginnen? Welche Strategie anwenden und welche Taktik? Was zuerst angehen? Nach dem Mittagessen in einem Schnellrestaurant, in dem die Hast des Großstädters perfekt kommerzialisiert wird und in dem ich mich wie eine Marionette fühlte, die von dem hektischen Takt mitgerissen wurde, fühlte ich mich wie besinnungslos. Irgendwie darf man dort drin kurz inhalieren und wird sofort wieder auf die laute Ausfallstraße gespuckt.
So richtig klare Gedanken konnte ich noch nicht fassen und rief deshalb die erste Fluggesellschaft auf meiner langen Liste an, die von New York gen Europa rotierten. Na klar, über die Namen von Passagieren dürften keine Auskünfte gegeben werden. Auch die Namen derer, die längst geflogen waren und denen folglich keine explosivern Gegenstände mehr ins Gepäck geschmuggelt werden konnten, dürften nicht bekannt werden. Man nannte so einleuchtende Gründe wie eifersüchtige Ehepartner, die sich gegenseitig hinterher spionieren und Anwälte wie Privatdetektive beauftragen. Aber auch Arbeitgeber, die Reisespesen kontrollieren wollen. Nein, es sei grundsätzlich verboten, Datenschutz! So sorry!
Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen und klapperte weitere Fluggesellschaften ab. Hingehen muss man, das war immer meine Devise gewesen, die Leute persönlich konfrontieren, wenn man etwas erreichen will. In den Direktionen von ihrer antrainierten Plastikfreundlichkeit profitieren. Die können gar nicht anders, wenn man vor ihnen steht. So war es. Keiner war wirklich abweisend in den höheren Etagen. Schon bei der vierten Adresse wurde ich fündig. Ja, die Namen der beiden Mädchen waren tatsächlich auf der Passagierliste. Nein, mehr könnte man beim besten Willen nicht … Thanks a lot! You are welcome!
Was bedeuteten denn schon zwei Namen auf einem Stück Papier? Dass sie geflogen sein konnten, aber nicht geflogen sein mussten. Zwei andere Mädchen konnten genauso gut unter falschem Namen und echten Papieren die Maschine benutzt haben. Ich war so schlau wie vorher, bedankte mich aber ausführlich. Die Drehtür schleuderte mich in die raue Kälte des Januarnachmittags zurück. Ein Blizzard ging über der Stadt nieder. Der Verkehr brach zusammen. Der Schnee lag bald knöchelhoch und näherte sich den Knien. Ich rannte die glitschigen Stufen eines Eingangs zur Subway hinunter.
Vielleicht gab der Fundort der toten Dorothy Aufschluss? Die Toilette der Zentralbibliothek. Ich hatte das Mädchen noch bei uns zu Hause vor rund acht Wochen gesehen, lustig und voller Tatendrang. Jane und sie waren euphorisch wegen ihrer Reise. Paris natürlich, Rom, Berlin – sie hatten sich die Namen ihrer Ziele begeistert zugerufen. Aber nach Auskunft der Gerichtsmediziner gab es keinen Zweifel, dass Dorothy schon seit mindestens einigen Monaten drogensüchtig gewesen war. Das hatten sie anhand der Vernarbungen an den Einstichstellen festgestellt. Bücher aus der Bibliothek hatte man bei der Toten nicht entdeckt, überhaupt keine schriftlichen Aufzeichnungen.
Ich zeigte den Bibliothekarinnen trotzdem das Bild von Jane. „Nein, nie gesehen!“ So oder so ähnlich antworteten alle, mich über ihre leicht verrutschten Brillen musternd. Manche nahmen das Foto in die Hand, um es dann doch weit von sich zu halten. Es gehörte zu ihrem Berufsbild, halbe Lesebrillen zu tragen und sorgfältig zu sein. Man kann nicht behaupten, sie würden sich keine Mühe geben.
Was mir an der ganzen Sache nicht einleuchtete, war die Europareise der beiden Freundinnen. Zumindest von Dorothy wusste ich definitiv, dass sie süchtig war. Wer süchtig ist, verreist nicht, außer er kommt auf diese Weise leichter an Stoff heran. Möglich war natürlich, dass sie einfach untertauchen wollten und deshalb eine Spur in den alten Kontinent mit seinem Sprachengewirr, seinen Ländergrenzen und zahlreichen Millionenstädten legen wollten. Aus der Sicht eines Amerikaners gewiss ein Denkansatz, doch dann fliegt man sicherlich zuerst nach London, schon wegen der Sprache. Nein, irgendwie erschien mir auch diese Idee als einigermaßen absurd. Süchtige verlassen nicht freiwillig ihren Dealer. Irgendetwas stimmt da nicht.
Ich musste zurück zu der konkreten Spur bei der Fluggesellschaft. Dieses verdammte Flugzeug blieb zunächst der einzige Schlüssel. Ich musste an die Passagierliste herankommen. An diese auf Endlospapier per Computer gedruckten Daten, die der Direktor der Airline als mehrfach gefalteten, grauweiß gestreiften Bogen, in seinen Händen gehalten hatte.
Damals bei meinem Besuch, der erst Stunden her war, hatte er gemeint, er könne mir nur sagen, ob einer der von mir genannten Namen auf seiner Aufstellung wäre, mehr nicht. So hatte er mich gleich an der Tür empfangen. Weitere Namen, Telefonnummern, Adressen – kein Kommentar! Eigentlich dürfe er überhaupt nichts sagen. Von ihm war also kein größeres Entgegenkommen zu erwarten. Und für die Polizei war der Fall auch gelöst. Es hat eine Drogentote gegeben und eine Vermisste. Na und? So etwas ist in New York so alltäglich wie Apfelkuchen.
Wie kommt man an eine Passagierliste heran, die in einer Schreibtischschublade oder sogar im Panzerschrank einer Fluggesellschaft lagert, deren Büros in einem riesigen Glaskasten sind, beginnend ab dem 22. Stock? „Durch einen Anwalt“, meinte meine Frau Judith, als ich sie bei ihren Eltern anrief, auch um zu hören, ob sie gut angekommen sei. Ja, natürlich, möglicherweise, aber Anwälte haben Tarife, die einen Teil meines Geldes, von dem ich noch länger leben musste, aufgefressen hätten.
Ich beschloss an jenem Abend, gleich morgen früh die Highschool der Mädchen aufzusuchen, weil ich keine andere Lösung wusste und die Ferien endlich vorüber waren. So geschah es.
„Hey, Alter, bist du der Neue?“ fragte ein Schlacks, der seine Jeansbeine auf dem Tisch hatte und mich durch das V seiner genobbten Turnschuhsohlen beobachtete, als ich den Unterrichtsraum betrat. Sie hatten Pause und es war ziemlich laut. Einige seiner Kumpels bogen sich vor Lachen über den gelungenen Witz ihres Anführers. Alle trugen Baseball-Capes,