Der dritte Versuch Die Drachenjägerin. Norbert Wibben

Der dritte Versuch Die Drachenjägerin - Norbert Wibben


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Nacht legten sie nur kurze Pausen ein, um den Abstand zu Deans Schar schnell zu verringern. Als sie in der Nähe der alten Königsburg im Osten erkennen, dass ihnen das gelungen ist, greifen sie seitdem jede Siedlung an, die auf ihrem Weg liegt. Anders als das Heer im Süden lassen sie in den Orten aber keine Besatzungen zurück. Damit die wenigen Reiter Deans als Späher wirken, halten sich die Fußsoldaten nicht lange mit den Überfällen auf. Sollte der Widerstand heftiger als erwartet sein, brechen sie die Aktion ab, um den Abstand zwischen sich und den Reitern nicht wieder groß werden zu lassen. Sind sie erfolgreich, ziehen sie kurz plündernd durch die Straßen. Es wirkt wie ein unheimlicher Spuk, der Tod und Verwüstung hinter sich lässt.

      In den anderen Regionen des Landes ist es dagegen bisher seltsam ruhig geblieben. Das große Heer, das von Finn und Ryan beobachtet wird, hat, bis auf den eher zaghaften Angriff auf den kleinen Ort im Westen, keine weiteren Aktionen gestartet. Es scheint das Ziel zu verfolgen, möglichst unbemerkt und ohne Aufsehen in den Norden vorzustoßen.

      Von alldem bekommen Juna und Cloe in ihrem einsam gelegenen Haus nichts mit. Seit das Volk der Südelfen vor vielen Jahren durch die Dubharan vernichtet worden war, hat sich Juna in die Einsamkeit zurückgezogen. Auf einer der wenigen Zaubererversammlungen, an denen sie dann noch teilgenommen hatte, lernte sie durch Zufall den späteren Vater Cloes kennen. Ihr neues Heim verlassen wollte sie nicht. Sie hatte sich derart an ihr zurückgezogenes Leben gewöhnt, dass dieser ihr ohne Widerspruch dorthin folgte. Sie lebten zufrieden für sich allein, bis ihr Glück mit der Geburt Cloes vollständig zu sein schien. Gelegentlich besuchte Ainsley, die Schwester des Vaters sie, die zur Patin der jungen Elfe ernannt worden war. Doch als die Dubharan ihren zweiten Versuch unternahmen, die Herrschaft im Land an sich zu reißen, konnte und wollte der Vater die Elfen seines Volkes im Osten unterstützen. Er starb bei dem Kampf um die Königsburg der Menschen und hinterließ eine verbitterte Elfe mit einem kleinen Kind. Diese zog, auf sich allein gestellt, ihre Tochter liebevoll auf, denn ein Ortswechsel kam für sie jetzt erst recht nicht in Frage, obwohl ihre Schwägerin sie oft drängte. Seit jenem Verlust forscht Juna nach einer Möglichkeit, die verhassten Dubharan für das ihr zugefügte Leid zu bestrafen.

      Während der Suche nach magischen Wesen an der Westküste, hatte Cloe von ihrer Mutter endlich die Gründe für ihr zurückgezogenes Leben erfahren. Die junge Elfe versucht deshalb ebenso wie Juna, diese Kreaturen zu beherrschen. Dabei ist ihr der Greif am liebsten.

      »Das ist zwar ein starkes Wesen«, pflegt ihre Mutter sich dann zu äußern, »aber ein Drache oder der Drachengeist ist wesentlich mächtiger. Wenn ich den nur endlich kontrollieren könnte!« Die Tochter schüttelt jedes Mal betrübt den Kopf. Juna scheint starrköpfig daran festzuhalten, nur diese Kreatur könne ihr helfen, Rache an den Dubharan zu nehmen. Oder ist es einfach ihr Plan, dass sie das Wesen, das so viel Kummer in ihr Leben gebracht hat, gegen ihre Feinde hetzen will?

      Cloe kommt eines Abends von einem Besuch bei ihrer Tante Ainsley zurück, bei dem ihre Mutter sie natürlich nicht begleiten wollte. Sie bringt beunruhigende Neuigkeiten über die Aktionen der Dubharan mit und brennt vor Ungeduld, sie mitzuteilen. Doch im Haus ist es unnatürlich ruhig. Das Ticken der alten Standuhr vermittelt zwar den gewohnten heimeligen Eindruck, trotzdem rieselt der jungen Elfe ein Angstschauer über den Rücken. Woran es liegt, weiß sie nicht, doch ihr Puls beginnt zu rasen.

      »Mom, wo steckst du?«, ruft sie in der verwaisten Wohnstube. Eine Antwort bleibt jedoch aus. Von Unruhe getrieben, ruft Cloe immer wieder nach der Mutter, wobei sie einen Raum nach dem anderen betritt. Doch das Haus ist verlassen! Was ist, wenn die Dubharan sie überfallen haben, so wie das an vielen Orten im Süden und Osten passiert? Dann wird sie bereits getötet oder verschleppt worden sein. Sie liegt möglicherweise in einem Gefängnis und wartet schwerverletzt auf Hilfe. Allein konnte sie nicht gegen mehrere …

      Cloe unterbricht ihre sich jagenden Gedanken. Wenn es einen Überfall auf ihre Mutter gegeben haben sollte, müsste es hier anders aussehen! Es wirkt eher so, als ob das Haus freiwillig verlassen wurde. Aber warum? Ihre Mom ist doch sonst fast immer hier. Am Morgen, als Cloe sich von ihr verabschiedete, hatte sie nicht angedeutet, erneut nach magischen Wesen suchen zu wollen. Das wäre zwar eine Möglichkeit, weshalb sie das Haus verlassen haben könnte, aber einen Blutmond hat es nicht schon wieder gegeben. Falls sie also einer anderen, plötzlichen Idee gefolgt sein sollte, müsste eine Nachricht von ihr zu finden sein! Die Elfe rast in das Wohnzimmer zurück und sucht auf dem Esstisch und dann auf dem Schreibtisch nach einer Notiz. Doch sie findet keine. Eine neue Idee veranlasst sie, erneut den Sekretär zu durchsuchen. Sie öffnet Schubladen und schaut in Fächer, hebt Papiere an und schüttelt schließlich enttäuscht den Kopf.

      »Wo ist das Buch geblieben?«, murmelt sie leise, während sie zum Bücherregal hinübergeht. Nach längerer Suche ist sie sicher, dass das Buch über die magischen Wesen dort auch nicht zu finden ist. Erneut steigt Unruhe in Cloe auf. Es sieht ihrer Mutter nicht ähnlich, das Haus ohne eine Nachricht für ihre Tochter zu verlassen, jedenfalls nicht unter normalen Umständen. Es sei denn, sie wollte unlängst zurück sein, noch bevor Cloe vom Besuch ihrer Tante zurückerwartet wurde. Aber das bedeutet dann vermutlich, dass Juna etwas passiert sein muss! Ein kalter Schauer läuft der Elfe über den Rücken. So, als würde jemand mit einem Stück Eis darüberstreichen.

      »Mom! Was ist passiert?«, ruft Cloe wider besseres Wissen. Wie soll sie eine Antwort erhalten, wenn ihre Mutter nirgends zu finden ist. Da die beiden Elfen stets zusammen sind, fällt der Tochter erst jetzt die sonst fast nie genutzte Möglichkeit der gedanklichen Kontaktaufnahme ein. Sie setzt sich auf einen Stuhl, nimmt den Kopf zwischen die Hände und versucht es. Von innerer Unruhe getrieben steht sie schon bald wieder auf. Stillsitzen kann sie jetzt nicht. Auch während ihres unsteten Hin- und Herlaufens sendet sie andauernd: »Mom, melde dich! Wo bist du?« Doch eine Verbindung kommt nicht zustande. Cloe meint, mittlerweile zu ersticken. Ihr Hals fühlt sich an, als würde er ihr zusammengedrückt. Sie muss nach draußen, die Luft im Haus wirkt plötzlich derart dicht, dass sie nicht mehr eingeatmet werden kann. Panik steigt in der Elfe hoch. Sie taumelt beim Wechsel in die Küche und schafft es mit letzter Kraft, dort die Tür in den Garten zu öffnen. Auf der Schwelle bricht sie zusammen und streckt die Arme in einer hilflosen Geste aus. Ihr ist kurzzeitig schwarz vor Augen und Schweißperlen sammeln sich auf ihrer Stirn. Ihre Augenlider flattern, dann kommt sie wieder zu sich. Der Bauch scheint sich zu einem Knoten zusammenzukrampfen und drückt, als befände sich dort ein harter Stein. Ihr laufen unbemerkt Tränen übers Gesicht. »Mom, melde dich!«, sendet sie erneut. Aber auch jetzt ist es vergeblich.

      Die hastigen Atemzüge der Elfe erinnern an das verzweifelte Schnappen nach Luft, eines im Wasser ums Überleben Kämpfenden. Cloe beruhigt sich nur langsam. Die warme Abendluft umfächelt ihr Gesicht und einige leise Vogelstimmen dringen allmählich in ihr Bewusstsein. Sie atmet jetzt langsam und gleichmäßig und richtet sich vorsichtig auf. Immer noch verwundert über ihre unerklärlich heftige Reaktion, sucht sie nun im Garten und in der Nähe des Hauses nach der Mutter. Die Bewegung beruhigt sie zusätzlich, auch wenn sie Juna nicht findet. Sie kehrt ins Haus zurück und plötzlich durchfährt sie ein Gedanke. Der Keller! Sie hat bei ihrer Suche die unteren Räume vergessen! Um sich nicht erneut in eine Situation voller Panik hineinzusteigern, geht sie bewusst langsam in den hinteren Bereich des Hauses, um dort über eine Stiege in die Kellerräume hinunterzusteigen. Hier ist es dunkel. Darum erwartet Cloe auch nicht, ihre Mutter zu finden, als sie mit »Solus« eine Lichtkugel herbeiruft.

      »Nein! Mom! Nein!«, ruft sie voller Schrecken, während sie die letzten Stufen der Treppe hinunter stolpert, um möglichst schnell zu der Gestalt zu kommen, die hier bewegungslos auf dem sandigen Kellerboden liegt. Im nächsten Moment hockt sie vor Juna und versucht, ein Lebenszeichen zu entdecken. »Lebensenergie. Du musst Lebenskraft übertragen!«, vernimmt sie eine Stimme, die in ihr Bewusstsein zu dringen versucht. Cloe hockt völlig erstarrt, betäubt und hilflos vor ihrer Mutter, deren Anblick grauenhaft entstellt ist. Kann es noch Leben in diesem mit Verbrennungen übersäten Körper geben? Von den Haaren sind nur noch gekräuselte Reste vorhanden und die Kleidung existiert fast nur noch als schwarze Fetzen. Gab es hier also doch einen Überfall der Dubharan? Aber wieso? Die wissen sicher nicht, wo sich Junas Heim befindet und einen Grund für einen Angriff können sie auch nicht haben, oder doch?

      »Reiß dich zusammen! DU MUSST LEBENSENERGIE ÜBERTRAGEN!«,


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