Der dritte Versuch Die Drachenjägerin. Norbert Wibben

Der dritte Versuch Die Drachenjägerin - Norbert Wibben


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ganz nah. Die junge Elfe wirbelt herum, murmelt vorsichtshalber »Sgiath« und beginnt den Greif heraufzubeschwören. Er wird ihr beistehen können. Dann stockt sie erleichtert.

      »Was ist das denn? Du bist schon wieder zurück?« Die gebeugte Gestalt einer alten Elfe ist an der Hausecke sichtbar geworden. Sie hat ein verwittertes Gesicht mit vielen, tiefen Furchen. Die dünnen, weißen Haare stehen wirr durcheinander, so, als ob sie gerade gerauft worden sind. Sie macht mit den schlurfenden Schritten, mit denen sie näherkommt, einen müden Eindruck, aber die Augen wirken wach und jung. »Es ist doch hoffentlich nichts passiert?« Cloe bemerkt nicht, wie ihr sofort Tränen über die Wangen laufen. Schon liegt sie in den Armen der älteren Elfe.

      »Mom. Es ist Mom. Sie ist …«, hier unterbricht sie ein heftiger Schluchzer. »Sie ist tot!«

      Seit der letzten Unterhaltung mit Kayleigh in Serengard sind Tage vergangen. Mit Sorge hat Cian verfolgt, dass ein großes Heer mehrere Orte im Osten angegriffen und viele davon zerstört hat. Leider ist er bisher stets zu spät gekommen, um den Menschen helfen zu können. Die Zugrichtung der Truppen deutet darauf, dass sie es auf das Gebiet der Ostelfen abgesehen haben könnten. Jetzt beraten sich Lennard, der Oberste dieser Elfen, Kayleigh und Cian. Sie sitzen auf der Veranda eines großen Baumhauses, das hoch in der Baumkrone errichtet wurde. Diese Behausungen sind bei den Ostelfen üblich und haben den Vorteil, dass sie von Feinden schlecht angegriffen werden können.

      »Ich bin der Überzeugung, dass diese Truppe keine Gefahr für uns darstellt«, antwortet der hochgewachsene Elf mit rötlich-braunen Haaren. »Wenn das hauptsächlich Fußsoldaten sind, können sie nicht gut klettern und unsere Häuser stürmen. Sollten Wolfskrieger unter ihnen sein, kommen die auch nicht zu uns herauf. Wir können sie jedoch gut bekämpfen, ohne nur einen Pfeil auf sie zu schießen.« Voller Zuversicht deutet er auf einen großen Vorrat an Felsbrocken, die zu einer umlaufenden Mauer auf dem Plateau angeordnet sind. »Wir nutzen dafür diese Steine. Natürlich haben alle Elfen auch Bogen und genügend Pfeile, um die weiter entfernten Gegner treffen zu können.«

      »Aber gegen Magier hilft das nicht!« Cian schaut Lennard besorgt an. Der ist nur etwa halb so alt wie er und nickt bestätigend, wobei seine grünen Augen leuchten.

      »Das ist mir klar. Meine magischen Fähigkeiten sind leider gering, aber eine Schutzglocke vermag ich kurze Zeit um mich zu errichten. Gleiches gilt für viele der Elfen hier. Unabhängig davon haben wir in jedem der Baumhäuser eine Notrutsche, mit der wir schnell den Erdboden erreichen können, um einander beizustehen. Am Ende der Rutschen befinden sich außerdem unsere neuesten Verteidigungsmittel, die wir vor einigen Wochen von Kayleigh bekommen haben. Komm mit, ich zeige sie dir.«

      »Nutzen wir die Notrutsche?«, fragt Cian mit hoffnungsvollem Grinsen. Er möchte gerne die rasante Abfahrt kennenlernen.

      »Da komme ich gerne auch mit!« Kayleigh erhebt sich schnell, um den anderen mit leuchtenden Augen zu folgen.

      »Wenn ihr die Rutsche probieren wollt, folgt mir.« Lennard führt sie in das Baumhaus hinein und dort zu einer runden Tür. Sie ist dunkelrot gestrichen und besitzt in der Mitte eine glänzende Messingkugel. Der Elf dreht diesen Knauf und öffnet den Zugang zur Gleitbahn. Die Rutsche aus dunklem, polierten Holz, windet sich spiralförmig nach unten. Sie ist um den Stamm herumgelegt. Verkleidet ist das System mit dünnen Brettern, die außen mit Moos bewachsen sind. Alle Wohnbäume sind so gebaut, wodurch es so wirkt, als hätten die Stämme einen entsprechend gewaltigen Umfang. Lennard hockt sich auf die Bahn und streckt sich dann lang darauf aus.

      »Mir nach«, fordert er und verschwindet schnell nach unten. Cian folgt seinem Beispiel und fühlt sich in die Kindheit zurückversetzt. Laut lachend kommt er am Erdboden an. Hier befinden sie sich zwischen dem Stamm und der künstlichen Außenwand. Prüfend fährt Cians Hand über die Innenseite der Verschalung. Erstaunt stellt er fest, dass das kein totes Holz ist. Es ähnelt Weidenholz, das zu breiten Brettern aufgebogen und in den Boden gesteckt wurde. Sollte es dort Wurzeln gebildet und wieder angewachsen sein? Sein Staunen verrät offenbar, was er denkt, denn der andere Elf bestätigt diese Vermutung. Das erklärt auch, warum die Wohnbäume mit ihren Umbauten nicht unnatürlich wirken. Nach oben blickend erkennt er die mächtigen Äste, die in der Höhe seitwärts durch die Verkleidung herausragen und die Wohnebene tragen. Während der kurzen Zeit, in der Cian das betrachtet, ist auch Kayleigh lachend unten angekommen. Jetzt deutet Lennard auf einen Langschild, der am Stamm des Baumes lehnt. Daneben stehen ein typisches Elfenschwert, weitere Elfenbögen und mehrere mit Pfeilen gefüllte Köcher.

      »Hier siehst du unsere beste Verteidigung gegen feindliche Zauberer.«

      »Meinst du jetzt das Schwert oder gibt es einen besonderen Bogen?«

      »Schau nur genau hin«, entgegnet Kayleigh und wartet gespannt, ob ihr Freund die Lösung erkennt. Cian tritt näher, nimmt erst das Schwert und dann die Bogen in die Hand. Sein Blick fährt auch prüfend über die Pfeile, dann stutzt er. Elfen verlassen sich sonst lieber auf ihre Schnelligkeit, die durch das Tragen eines Schildes erheblich reduziert wird. Sollte dies ein besonderes Exemplar sein? Er blickt den anderen Elf an.

      »Hm. Ich sehe, auf dem Schild befindet sich ein großes »S«. Da du eine Verteidigungswaffe von Kayleigh bekommen hast, die also aus Serengard stammt, wird es der Schild sein!«

      »Du hast es erraten«, bestätigt Lennard. »Aber das ist nicht alles.« Cian betrachtet die Defensivwaffe jetzt genauer. Was mag es so Besonderes geben, weshalb der Elf und auch Kayleigh ihn so erwartungsvoll anschauen? Die Verteidigung mit diesem seltsam geformten Schild muss geübt werden, ist er sich sicher. Es ist ein Langschild, der fast so groß wie der Elf ist. Die Form ist etwa v-förmig, besitzt oben eine Doppelrundung und dazwischen eine Vertiefung. An den Enden wölbt sich der Schild jeweils nach oben, um dann in die Gegenrichtung überzugehen, so dass sich in der oberen Mitte eine nach unten ausgeführte Rundung wie eine Delle ergibt. Die Seitenränder sind leicht zum Körper des Trägers hingebogen. Das außen aufgemalte goldene »S« ist die einzige Verzierung auf blauem Grund. Zuerst hält Cian das einfach für eine Kennzeichnung, als Synonym für »Serengard«. Er kraust die Stirn.

      »Einen Moment, da gab es doch etwas.« Er klopft mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel und fährt sich schließlich mit den Fingern durch die Haare. Er wühlt darin hin und her, scheint sie sich ausraufen zu wollen. Dann fällt ihm die Bedeutung endlich ein. Er hat vor langer Zeit darüber in einem seiner Bücher gelesen. »Diese Schilde besitzen einen magischen Schutz. Sie sind nicht nur unzerstörbar, so dass kein Schwert oder Speer sie durchdringen kann, sie wirken genauso wie eine Schutzglocke, die von Zauberern mittels »Sgiath« aktiviert wird. Jeder Träger vermag durch diese Schutzwaffe auch Zaubersprüche abzuwehren, gegen die eine Schutzglocke wirken würde. Das »S« auf dem Schild bedeutet also »Sgiath!«, stimmt’s?«

      »Und da sorgst du dich, senil und vergesslich zu werden«, beginnt Kayleigh. »Aber du hast recht! Da es nicht nur im Volk der Ostelfen immer weniger Zauberer gibt, wären sie im Kampf gegen Dubharan mit Zauberkräften im Nachteil. Die Schilde, besser gesagt die Vorbilder dafür, habe ich in der Waffenkammer in Serengard entdeckt. Ich habe die Schmiede angewiesen, diese wirksame Verteidigungswaffe meiner Vorfahren nach alten Vorlagen neu herzustellen, die ich anschließend mit den notwendigen Sprüchen aktiviert habe. Einhundert von ihnen hat Lennard bekommen.« Jetzt erläutert dieser die ersten Erfahrungen mit der Defensivwaffe.

      »Anfangs war keiner meiner Kämpfer davon begeistert, sie zu nutzen, da das ihre Reaktionsmöglichkeiten stark herabsetzt. Ich konnte aber mit Kayleighs Hilfe den wahren Wert dieser Schutzwaffe demonstrieren. Ich hielt einen der Schilde vor mich, während sie mehrere Feuerbälle und Feuerzungen darauf schleuderte. Mit Erstaunen sahen alle das Aufleuchten einer Glocke, die sich sofort um mich aufbaute, ohne dass ich Schaden genommen habe. Am Ende der Demonstration stand ich unversehrt vor den anderen. Seitdem besitzen einige meiner Krieger diesen Schutz. Viele der Bogenschützen freundeten sich aber nicht damit an. Um Pfeile abschießen zu können, benötigen sie beide Hände. Den Schild könnten sie zwar mit der unteren Spitze in einen weichen


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