Der dritte Versuch Die Drachenjägerin. Norbert Wibben
mächtigen Ästen der Eiche, deren Umrisse nur undeutlich zu erkennen sind. Die Frau schaut ihn kurz an, dann nickt sie. Mit Hilfe des jungen Mannes verschwindet sie schon bald in dem Geäst und er folgt sofort. Obwohl sie an manchen Stellen zurückrutschen, hilft ihnen die raue Rinde. Beide klettern so schnell wie möglich und doch hören sie bereits kurz darauf das Näherkommen ihres ersten Verfolgers. Mit angehaltenem Atem erkennen sie im Schein der Lichtkugel, wie der Dubharan, der sie vorhin entdeckt hatte, näherkommt. Shane hat bei seinem Vorschlag nicht bedacht, dass eine Eiche in der Nähe des Stamms kein geeignetes Blattwerk hat, das sie vor den Blicken eines aufmerksamen Beobachters verbergen kann. Die dichteren Blätterbüschel sitzen meist am Ende dünner Äste, die sie nicht mit ihrem Gewicht belasten können. Außerdem konnten sie in der kurzen Zeit nicht bis in deren Nähe hinauf klettern. Jetzt muss ihnen die geringe Helligkeit der Nacht helfen. Beide schmiegen sich mit klopfenden Herzen an dicke Äste und verharren unbeweglich. Sollte diese List reichen, um nicht entdeckt zu werden? Der dunkle Magier verharrt nur kurz unter ihrem Versteck, schaut aber nicht nach oben. Die Lichtkugel schwebt etwas entfernt vor ihm und wirft den Schatten des Stamms auf die Flüchtigen.
Erneut sendet Luan mehrfach den Lähmungszauber »Torpor« in die bisherige Fluchtrichtung, dann rennt er weiter. Die Herzen von Tante und Neffe pochen noch aufgeregt, aber ihr Atem beruhigt sich.
»Wenn wir wie bisher geflohen wären, könnten wir nicht entkommen. Entweder einer der Zaubersprüche hätte uns im Lauf getroffen, oder wir würden langsam aber sicher von diesem Dubharan eingeholt werden.« Shane blickt forschend in Richtung der anderen Verfolger, die nicht mehr weit entfernt sind und beständig näherkommen. Robyn stimmt ihm flüsternd zu.
»Deine Überlegung war richtig. Der Zauberer kann dort, wo die Sicht für ihn frei ist, den magischen Sprung nutzen. Bisher haben wir Glück gehabt, weil es dunkel ist und dichter Regen fällt, dass der die Sicht behindert. Aber ich meine, er wird schon weniger.« Die vorher noch dicken Tropfen sind mittlerweile zu einen feinen Nieselregen geworden und auch die Dunkelheit wird nicht mehr lange andauern. Vorsichtig klettern beide vom Baum hinab. Unten angekommen horchen sie kurz dorthin, wo der Magier verschwunden ist, dann rennen sie fast im rechten Winkel zu ihrer bisherigen Richtung fort. Sie wissen, dort werden sie ihre Pferde finden. Sie müssen sich aber beeilen, damit die weit ausgeschwärmten Helfer des Zauberers sie nicht vor ihnen erreichen.
Robyn und Shane bewegen sich fast parallel zur näherkommenden Linie der Häscher. Es bleibt darum nicht aus, dass der Abstand zwischen ihnen langsam abnimmt. Deren unwillige Rufe schallen bereits gefährlich laut in ihren Ohren. Vorsichtshalber laufen Neffe und Tante jetzt nur gebückt, um nicht doch noch entdeckt zu werden. Sie fürchten das Licht der vielen Fackeln nicht, da deren Schein in dem nachlassenden Regen mehr als kümmerlich ist. Aber die vier Lichtkugeln weiterer Magier, die in unregelmäßigen Abständen weit vor die Linie der Suchenden vorschnellen, könnten sie bald schon erfassen. Gerade in dem Moment, als eine dieser Kugeln näherkommt, erzeugt sie einen bewegten Schatten. Er ähnelt einer Schlange, die sich über den Boden windet. Robyn wirft sich im Lauf erschrocken zur Seite und strauchelt. Ihr unterdrücktes Ächzen wird von Shane gehört, der sofort umkehrt und sich besorgt nach dem Grund erkundigt. Seine Tante sitzt am Boden und reibt sich den Knöchel des rechten Fußes.
»Es ist nicht schlimm. Ich kann gleich weiter. Gib mir nur etwas Zeit.« Erneut schießt eine Lichtkugel in ihre Richtung, so dass sich beide tief in den Schatten der Büsche ducken. Jetzt können sie das Murren der Männer und auch gelegentliches Zischen der Fackeln hören, wenn Wasser verdampft. Sollten ihnen die Verfolger bereits so nahegekommen sein? Shane richtet sich halb auf und blickt suchend und abschätzend umher. Können sie weiterlaufen, im Zickzack jeden der vereinzelt stehenden Büsche als Deckung nutzen, oder werden sie dann entdeckt? Robyn versucht, sich vorsichtig aufzurichten, was sofort einen stechenden Schmerz im Fuß verursacht. Sie beißt die Zähne aufeinander. Doch auch beim zweiten Mal gelingt es nicht. Tränen schießen ihr ungewollt in die Augen.
»Ich kann nicht aufstehen«, haucht sie ihrem Neffen zu. »Versuch du es allein!«
»Was denkst du von mir? Ich soll dich im Stich …« Auch wenn er leise gesprochen hat, unterbricht er sich wegen der bereits sehr nahen Verfolger doch. Sein prüfender Blick hastet umher, dann fasst er einen Entschluss. »Wir bleiben hier und vertrauen auf unser Glück. Wir müssen nur zu dem größeren Busch dort, um uns in dessen Schatten zu verbergen.« Er hilft Robyn, die sich kriechend zu dem gezeigten Gebüsch bewegt. Dort angekommen ziehen sie einige Zweige über sich und sitzen dann stocksteif. Sie wagen kaum zu atmen, da sie die Schritte der näherkommenden Verfolger bereits deutlich hören. Die von dem flackernden Licht der Fackeln umherhuschenden Schatten der Büsche werden in diesem Augenblick durch eine Lichtkugel vertrieben, die über sie hinwegfliegt und die Umgebung hell erleuchtet. Robyn zweifelt. Wie konnten sie nur so töricht sein zu glauben, dass das kleine Gebüsch sie in diesem grellen Licht den Augen ihrer Häscher verbergen würde? Sie und Shane halten ihre Elfenmesser in Händen. Falls sie entdeckt werden, lassen sie sich nicht einfach überwältigen. Beide pressen die Lippen aufeinander und erwarten den Moment, in dem ein Schrei ihre Entdeckung verkündet. Jetzt, jetzt muss es soweit sein. Gegen den Busch, der ihr Versteck bildet, ist gerade ein Fuß gestoßen. Beide konnten die Erschütterung spüren, genauso, wie das nachlassende, leichte Zittern der Zweige. Pfiffe und Rufe hallen durch die Nacht.
»Hierher. Wir haben sie!«
Der Herzschlag der beiden Flüchtigen setzt kurz aus, dann atmen sie tief ein. Sie werden sich nicht einfach ergeben! Ihre Finger umfassen das Heft der Messer fester. Sie sind bereit, sich zu erheben, sobald der erste Gegner um den Busch und in ihr Blickfeld tritt.
Doch was ist das? Das Gebüsch erbebt erneut, aber die Verfolger kommen nicht darum herum. Sie haben ihre Richtung geändert und bewegen sich mit großer Geschwindigkeit dorthin, wohin Robyn und Shane wollten. Sind ihre Pferde entdeckt worden? Unzählige Füße stampfen den Boden. Können sie so vielen Häschern entkommen? Ihr Strom scheint nicht abzureißen. Die Stimmen der Männer klingen nicht mehr missmutig. Sie scheinen über den Erfolg froh zu sein und hoffen, ihre unterbrochene Nachtruhe jetzt fortsetzen zu können. Der Großteil der Verfolger ist mittlerweile schon weit weg und das Tappen der Füße verklungen. Die beiden Flüchtlinge lassen die Zweige los, um sich zu erheben, als das Gebüsch erneut erzittert. Fluchend richtet sich ein Mann auf, der darüber gestolpert ist.
»Schläfst du schon? Mach doch deine Augen auf, dann erkennst du, wo du auf ein Hindernis triffst.« Während sich der Gestürzte ächzend erhebt, umrundet sein lachender Kumpan den Busch. Er trägt eine kaum noch Licht spendende Fackel, die in diesem Augenblick zischend erlischt. »Was ist das denn? In dem Busch hat sich etwas versteckt. Lauert hier ein Wolf?« Erschrocken taumelt der Mann zurück. »Reich mir schnell deine Fackel!«, fordert er seinen Gefährten auf, der sich erhoben hat und weitergeht.
»Lass doch das Tier! Falls es ein Wolf ist, ist er gefährlich. Wir sind offenbar die Letzten. Die Anderen sind schon fast wieder im Lager und du willst …« Er wird unterbrochen, da jetzt ein dunkles Grollen im Gebüsch ertönt. Es klingt dem Drohen eines Wolfs nicht unähnlich und reicht aus, dass beide Männer laut schreiend fortrennen. Gegen einen Wolf wollen sie nicht kämpfen.
Sobald ihre Schritte nicht mehr zu hören sind, ist es ruhig bei dem Busch. Die beiden waren offenbar wirklich die letzten Verfolger. Vorsichtshalber warten Robyn und Shane kurze Zeit, bevor sie sich erheben. Der Neffe muss seiner Tante helfen, die ihren rechten Fuß nur vorsichtig belastet. Auch wenn der beim Aufstehen schmerzt, muss sie etwas lachen.
»Ich wusste nicht, dass du einen Wolf nachahmen kannst.«
»Ich habe schon oft die Stimmen vieler Tiere imitiert, besonders als Kind. Dass mir das so täuschend gelingt, wusste ich aber nicht. – Was macht dein Fuß, kannst du laufen?«
»Rennen kann ich nicht, aber mit deiner Unterstützung werde ich langsam vorankommen. Ich denke, sie haben unsere Pferde entdeckt. Die Waffen und Vorräte sind somit verloren. Um zu den Mittelelfen zu kommen, müssen wir wohl oder übel wandern.«
»Wenn du es schaffst, sollten wir so schnell wie möglich dorthin aufbrechen. Sobald es Tag wird, werden die Zauberer und ihre Soldaten nach uns suchen. Da wir dann noch keinen großen Vorsprung erreicht haben werden, verstecken wir