Vernarbt. Ron Müller

Vernarbt - Ron Müller


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      Ich warf das Unkraut beiseite, klopfte mir die Erde von den Fingern und ließ mich wortlos nieder. Es fehlte nicht viel, dass ich geheult hätte. Ich kannte ihn nicht in diesem bestimmenden Ton.

      »Und jetzt schaust du wieder so vor dich hin«, sagte er. In diesem Moment konnte er sich das Lachen nicht mehr verkneifen. »Los komm' her.« Karl beugte sich herunter und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Seine Augen suchten mein Gesicht nach einem Lächeln ab. Stattdessen lief mir die erste Träne hinunter - ich bin mir nicht sicher, ob vor Erleichterung.

      Er legte die Hände um meine Wangen. »Herzchen, das ist ein Spaß gewesen.« Ich verstand, was er sagte, doch bei mir war es schon immer so, dass es einige Zeit brauchte, bis die Verunsicherung wieder ging, wenn sie sich erst einmal eingeschlichen hatte.

      »Du brauchst nicht aufzuspringen, sobald ich etwas mache«, sagte er und hielt weiterhin mein Gesicht.

      »Mutter ist manchmal wütend geworden, falls ich ihr nicht gleich zur Hand gegangen bin.« Mir fielen sofort wieder Tränen hinab, als ich daran dachte.

      »Ich weiß. Ich kenne meine Schwester schließlich auch schon recht lange«, meinte er und setzte sich neben mich. Als wir so im Garten hockten, gab es keinen Grund, dass einer von uns etwas sagte. Wir sahen auf die Schwalben, zur Sonne und manchmal auf den Weg, auf dem die Ameise inzwischen fehlte. Wir wussten wohl beide, dass es bei mir noch vieles zu heilen gab.

      »Lass es uns so machen«, unterbracht Karl die Ruhe. »Du fegst zwei Mal in der Woche das Haus. Das ist ab jetzt deine Aufgabe, und wenn du sie gemacht hast, dann lässt du vom Rest die Finger, es sei denn, ich bitte dich darum.«

      Ich nickte.

      »Dann hat jeder genug zu tun und wenn mir mal nach Harken ist, bekommst du kein schlechtes Gewissen und kannst dir weiter meinen verwilderten Garten ansehen.«

      Als er das sagte, konnte ich wieder etwas lächeln.

      »Du weißt, dass ich meine große Schwester wirklich sehr liebe …«, sagte er, ohne eine Antwort zu erwarten. »… aber nicht alles, was sie getan hat, war richtig.«

      Dieser Satz war schwierig für mich, weil es so war, als würde ich mich gegen Mutter stellen, sobald ich auch nur darüber nachdachte, ob er stimmte. Schließlich hatte ich elf Jahre lang meine Wahrheiten aus ihren gemacht.

      *

      Immer, wenn ich später an die Zeit nach dem Unwetter zurückdachte, fiel mir auf, dass ich damals frei von Heimweh war. In den ersten Wochen konnte ich es mir damit erklären, dass ich die Hoffnung hatte, dass man Mutter in der Anstalt helfen würde. Die Aussicht auf Genesung und das Warten auf ihre Rückkehr trugen mich über die Zeit und beglichen die Wehmut. Nur der Wunsch, sie zu besuchen, blieb. Ich unterdrückte ihn, so gut ich konnte. Manchmal ging es nicht. An solchen Tagen erzählte ich es Karl. Meist unterbrach er dann das, was er gerade tat, legte den Arm um meine Schultern und sagte, dass Mutter erst einmal gesund werden musste und, dass das am Wichtigsten sei. Damit hatte er recht. Trotzdem ärgerte es mich, diese Antwort immer wieder anzunehmen. Manchmal hätten mich solche Erklärungen nicht beruhigen sollen. Dann hätte ich trotzig werden müssen und Mutter nichtsdestoweniger sehen wollen. Stattdessen akzeptierte ich, was man mir sagte und ich bewies mir selbst, wie vernünftig und wie wenig Kind ich war.

      Kapitel 2

      Es muss ein Mittwoch gewesen sein, als man Mutter nach Hause gebracht hatte. Ich weiß es noch, weil es bei Karl freitags immer Fisch gab und wir Forelle aßen, als er mir sagte, dass sie vorgestern entlassen wurde und ich sie am Samstag besuchen könne. Das hatten die Ärzte so gewollt – einige Tage Ruhe, in denen sie in ihrer Umgebung nur für sich war, um sich wieder zurechtzufinden.

      Ich hätte damit gerechnet, in dieser Nacht schwer in den Schlaf zu finden. Mutter zu sehen, hieß Veränderung und somit Unruhe. Ich wollte keine Unruhe mehr. Ich wünschte mir, dass ich ein Stück von dem behalten konnte, was mich in den vergangenen Wochen bei Karl hatte ankommen lassen.

      Als ich am Abend im Bett lag und durch das offene Fenster auf die Kastanie im Hof schaute, wurde ich trotz dieser Gedanken schläfrig – womöglich, weil ich wusste, dass ich den folgenden Tag so nehmen musste, wie er kam.

      Ich schlief tief und lange. Ich träumte auch, etwas von einem markanten Duft. Es war einer der Träume, von denen man nach dem Aufstehen nur ein einziges Bild und ein Gefühl für ein paar Sekunden behielt, danach erinnerte man sich nicht einmal daran, geträumt zu haben – einer der seltenen Träume, die mir sagten, dass ich nicht nachts träumte, sondern am Morgen, kurz bevor ich aufwachte.

      Während mein Schlaf weniger wurde, mischte er sich mit den Gerüchen des Frühstücks, das Karl unten vorbereitet hatte. Frisches Brot und gemahlener Kaffee. Als ich begriff, dass sich das alles nicht in meinem Kopf abspielte, sondern mir tatsächlich eine Hand über die Wange strich, schlug ich die Augen auf. Karl saß auf der Bettkante.

      »Bist du schon aufgeregt?«

      Ich brauchte auf diese Frage nicht zu antworten. Es war überdeutlich. Ich musste unbedingt wissen, wie es Mutter ging und was nun mit mir passieren sollte. Diese Ungewissheit war nicht zum Aushalten. Ich sprang in meine Sachen und nahm mehrere Stufen auf einmal, als ich nach unten eilte. Karl lächelte, als er sah, wie ich das Brot in mich hineinschlang und meinen Tee hinterher schüttete.

      »Na los, geh schon. Du hältst es hier doch sowieso nicht mehr aus.«

      Das stimmte.

      In Windeseile lief ich den Sandweg hinunter bis auf die Wiese, an deren Seite das Gemeindehaus stand und auf der anderen eine Reihe von Pappeln. Von dort führte ein Weg am nördlichen Ende des Dorfes wieder hinauf, zum vorletzten Haus direkt am Waldrand. Mich überkam Beklommenheit, als ich die Klinke der Gartentür herunterdrückte. Mutter war zu Hause. Durch das offene Küchenfenster sah ich auf dem Tisch einen Berg von Apfelschalen. Sie backte und sang währenddessen. Ich schlich leise neben den Fensterladen und glaubte, die Frau nicht zu kennen, die in unserer Küche hantierte. Nicht genug, dass sie einen Kuchen backte. Das tat sie sonst, wenn überhaupt, nur an Geburtstagen.

      Sie strahlte Unbeschwertheit aus. Ich war irritiert und mir ziemlich sicher, sie noch nie so gut gelaunt gesehen zu haben. Die Anstalt hatte geholfen, dachte ich und sah ihr weiter zu. Bis sie mich entdeckte.

      Als ihre Überraschung verflog, zogen sich ihre Mundwinkel nach oben. Hätte sie zudem einen freundlichen Gesichtsausdruck gehabt, dann hätte ein Lächeln daraus werden können. So gezwungen jedoch sah es unecht aus. Ich erwiderte es nicht, stattdessen betrat ich das Haus, um mich von ihr umarmen zu lassen. Aber auch das wollte nicht recht gelingen. Sie tat es so schnell und unbeholfen, dass ich nicht den Willen aufbrachte, meine Arme um sie zu legen. Ich behielt sie dort, wo sie waren.

      Was hatte ich falsch gemacht, dass es ihr so schwer fiel, mir normal zu begegnen? Ich suchte in ihren Augen nach der Antwort, doch sie wandte sich von mir ab und werkelte weiter an ihrem Kuchen. Sie hatte offensichtlich nicht vor, mit mir zu sprechen. Also fragte ich sie, wie es ihr gehe.

      Sie meinte: »Gut.«

      Ich fragte etwas anderes. Wieder gab es nur eine einsilbige Antwort. Es muss doch Dinge geben, über die wir zu reden haben – wir können uns nach den vielen Wochen nicht anschweigen, dachte ich und sprach weiter mit ihr. Bis ich nicht mehr wusste, worüber ich noch reden sollte und wehmütig wurde. Ich hatte mir mehr erhofft. Natürlich machte eine Anstalt aus Mutter keinen anderen Menschen, aber vielleicht doch einen, der sich mehr für mich interessierte, als für den Teig, den sie unentwegt knetete. Nur manchmal unterbrach sie kurz. Dann, wenn er zu sehr am Tisch klebte und sie eine Handvoll Mehl nahm und darauf verstreute. Sie war so vertieft, dass sie nicht aufzusehen oder mit mir zu sprechen brauchte.

      Ich blieb noch wenige Minuten bei ihr, dann schloss ich die Tür und ging in den Garten, beobachtete sie noch kurz durch das Fenster. Wir hatten uns nicht verabschiedet. Sie hatte mir nicht einmal hinterher geblickt, als ich das Haus verließ. Sie machte stattdessen mit ihrem Kuchen weiter, zerschnitt Äpfel in Scheiben und legte sie auf den


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