Vernarbt. Ron Müller

Vernarbt - Ron Müller


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er mich um, so dass er hinter mir stand. Mit der einen Hand schob er mein Nachthemd nach oben, die andere suchte den Ort, von dem immer alles ausging. Ich schrie auf, als er ihn fand, presste mir aber sofort die Finger vor den Mund, damit er nicht abließ. Er rieb daran. Viel zu langsam, dennoch wurde das, was in mir sonst in den Mittagsstunden ständig nur vor sich hin schwelte, mehr und mehr. Mir wurde unheimlich, denn es war so anders, wenn man sich nicht selbst berührte. Meine Beine zitterten. Ich krallte meine Hand mit aller Kraft in seinen Oberschenkel, um mich zu zwingen, still zu bleiben. Er tat es weiter, rieb und hielt mich.

      Bis es zum ersten Mal aufhörte.

      Bevor ich mich sammeln konnte, war er dabei, es bei sich gleich zu tun. Er wollte, dass ich ihn anfasste, aber das Männliche, was ich an ihm sah, rief Ekel in mir hervor. Ich war verlegen, getraute mich nicht, zu gehen, hasste mich, war stolz auf mich und sah ihm weiter zu. Als seine Anspannung abfiel, musste er grinsen. Offenbar fühlte er sich gut. Ich nicht, ich fühlte mich dreckig. Er zog sich an und wir gingen zurück. Niemand hatte etwas mitbekommen.

      Es war wichtig, dass ich mich damals überwand und mit ihm mitging, allein schon, um zu wissen, dass nur die Tatsache, dass ein Junge Männliches an sich hatte, nicht ausreichte, um ihn anziehend zu finden. Und ganz bestimmt auch, um zu lernen, dass das, was man tut, falsch ist, wenn man sich danach dreckig fühlt. Denn das ist das Zeichen, um nach jemand anderem zu suchen.

      Ich hatte keine Vorstellung davon, was wir getan hatten. Es war verboten, dessen konnte ich mir sicher sein, weil das schlechte Gewissen mit nichts zu vergleichen war.

      *

      Der Junge machte mir Angst am nächsten Vormittag. Es war unerträglich, in seiner Nähe zu sein. Sein Bild stieß mich ab. Aber wie sehr ich mir auch vornahm, etwas Derartiges nicht noch einmal zu tun, an den folgenden Abenden ging ich abermals mit und wurde viel zu zeitig erwachsen, obwohl ich erst sechzehn war. Meine Angst sagte mir, dass es womöglich auf ewig so bleiben könnte, wenn es auf diese Weise angefangen hatte. Je früher, desto schlimmer. Man könnte sich, ohne es zu wollen, immer wieder Menschen suchen, bei denen es sich so anfühlte und die einem falsch vorkamen. Es würde lediglich die Hoffnung fortleben, dass es eines Tages aufhörte.

      Aber wie denn?

      Kapitel 4

      Ich habe heute keine Erklärung dafür, warum es sich so verhielt, aber als ich zu Karl zurückkam, pressten sich meine Sehnsüchte durch jede Pore. Es schien, als wäre das, was sich die ganze Zeit versteckt gehalten hatte, nicht nur freigelassen worden, sondern nun auch nicht mehr wahllos. Mit einem Mal wusste ich, was ich wollte, und vor allem, wen ich wollte. Doch das machte es keineswegs leichter, denn der Aufenthalt bei Karl bestand damit aus einem Verbergen von Lust - einer Restscham, die täglich abnahm. Denn meine Bemühungen, mein Verlangen für mich zu behalten, wurden immer geringer.

      *

      »Bist du noch wach?«, flüsterte ich. Für den Fall, dass er unerwarteterweise antworten würde, hatte ich mir etwas Belangloses im Kopf zurechtgelegt, dass ich ihn dann fragen wollte. An diesem Abend brauchte ich es nicht. Er lag bewegungslos da. Nur sein Brustkorb hob sich ruhig und senkte sich erst nach einer kurzen Pause wieder, was mich vermuten ließ, dass er tatsächlich schlief. In langsamsten Bewegungen rutschte ich Stück für Stück an ihn heran. Zunächst mit dem Oberkörper, abwartend, ob Karl etwas hörte, dann mit dem Rest. Wenn ich ihm nahe kam, fühlte ich, wie warm er war. Ich strich ihm über das Haar, behutsam, um ihn nicht zu wecken. So hatte ich es die letzten Nächte gemacht. Oft war mir dabei die Hand tiefer und damit auf seine Schulter geraten, während mir vor Aufregung das Blut durch die Adern schoss, weil ich befürchtete, dass er es merkte.

      Bis auf eine Unterhose schlief er nackt. Dadurch war das, was ich berührte nur ein Bruchteil dessen, was ich mir vorstellte.

      Ich arbeitete mich unauffällig vor. Eroberte ein neues winziges Stück seiner Haut und genoss es.

      Plötzlich gab er einen Laut von sich. Ich schreckte zusammen und stellte mich augenblicklich schlafend. Dann könnte ich so tun, als hätte ich mich in der Nacht versehentlich zu ihm gedreht, und wäre genauso erstaunt darüber, wie dicht wir beieinanderlagen.

      Ich war eine grauenhafte Schauspielerin.

      Als ich eine Weile nichts mehr hörte, blinzelte ich und sah, dass er noch im Schlaf lag. Karl hatte sich nur auf den Rücken gedreht und dabei die Decke etwas abgestreift. Seine Brust war entblößt. Sie wirkte kräftiger, als ich gedacht hatte. Das musste die muskulöseste Stelle seines Körpers sein. Ich wäre gern vorsichtiger vorgegangen, aber mit diesem Ziel vor Augen ging es nicht. Mir reichten die Schultern und der Hals nicht mehr. Meine Finger berührten seine Haut fast nicht, nur die feinen Härchen darauf nahmen mich wahr. Dort wo sie entlangfuhren, hinterließen sie Gänsehaut. Es war mir unmöglich, mit meinen Lippen nicht an seine Brust zu kommen. Ich küsste sie, umfuhr sie mit den Händen. Seine Augen blieben geschlossen. Ich wollte tiefer – musste an diesem Tag tiefer, um nicht vollends den Verstand zu verlieren und erklärte auch jeden Ort abwärts seiner Brust ungefragt zu meinem.

      Karl hätte sich wehren können, wenn er es nicht gewollt hätte. Aber das tat er nicht. Er tat gar nichts. Solange, bis ich unterhalb seines Bauchnabels war.

      Kapitel 5

      Die Borsten strichen über die Dielen.

      In die Ritzen, die sich aufgetan hatten, als sich das Holz mit den Jahren zusammenzog, kamen sie nicht richtig. Dafür waren sie zu kurz und zu weich. Außerdem, hätte ich dann nicht gegen, sondern mit der Dielung kehren müssen. Völliger Unsinn.

      Schließlich wollte ich fertig werden.

      Also fegte ich das Grobe zusammen und vom Feinen verschwand das Meiste zwangsläufig in den Spalten. Es störte mich nicht, ich stellte es nur fest, während ich seit dem Morgen meiner Hausarbeit nachging.

      Wir hatten in der Nacht nicht mehr gesprochen, mussten auch schnell eingeschlafen sein, getrennt voneinander. Mich hatte es nicht lange im Schlaf gehalten. Wahrscheinlich wollte mich selbiger von nun an hassen.

      Ich könnte es ihm nur schwer verübeln. Bei dem, was in der Nacht geschehen war, hatte ich es verdient, dass er mich von sich stieß, um mir anstelle dessen eine Sorge in den Kopf zu pflanzen. Vor allem dann, wenn das mit Karl etwas genauso Verstohlenes werden würde, wie das mit Anikas Bruder. Etwas ohne Gefühle, von beiden Seiten. Vielleicht wäre ich ja dieses Mal diejenige, die einem anderen egal war.

       Ist nicht schlicht zu wenig zwischen Karl und mir passiert, damit es anders sein konnte? Hatten nicht Küsse gefehlt?

      Als es aussichtslos wurde, in den Schlaf zu finden, war ich nach unten gegangen und hatte mir den Besen genommen.

      Wenn die Sonne eine Lücke zwischen den Wolken fand und für einige Sekunden kräftige Strahlen schräg durch das Fenster schickte, sah ich, wie jede meiner Bewegungen Staub in die Luft wirbelte. Obwohl es in unserer Gegend viele Sonnentage gab, war dieses Spiel nur an wenigen sichtbar. Damit wirkte das Fegen noch etwas sinnloser. Ein guter Grund, es nur an bewölkten Tagen zu tun.

      »Komm wieder ins Bett!« überraschte mich eine Stimme. Ich ließ zwar den Besen ruhen, sah mich aber nicht um. Wartete. Von hinten drückte sich Karl an mich. Ich spürte noch Bettwärme an ihm. Die Hände fanden den Weg auf meinen Bauch. »Komm zurück.« An diesem Morgen bekam ich meinen ersten echten Kuss. Er traf meinen Nacken. Er sagte das, was seit gestern allgegenwärtig aber noch nicht wahr war - das, wonach ich mich seit langem sehnte. Der Kuss fühlte sich richtig an und ich wünschte mir, nie mehr auf eine andere Art geküsst zu werden.

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