Alraune. Phantastischer Roman. Hanns Heinz Ewers
der grossen Gemeinde. Der von Dürer? Oder der von Böcklin? Oder irgendein wilder Harlekintod von Bosch oder Breughel? Oder gar so ein wahnsinniger, unverantwortlicher Tod von Hogarth, von Goya, von Rowlandson, Rops oder Callot?
Keiner war es von diesen. Der da vor ihm sass, war ein Tod, mit dem man umgehen konnte, war gut bürgerlich und dazu romantisch, war ein rheinländischer Tod, ein Rethelscher. War einer, der mit sich reden liess, einer, der Witz im Leibe hatte, der rauchte und Wein trank und lachen konnte –
»Es ist gut, dass er raucht!« dachte Manasse. »Das ist sehr gut: so riecht man ihn nicht –«
Dann kam der Justizrat Gontram.
»Guten Abend, Collega!« sagte er. »Auch schon da? Das ist recht.« Und er begann eine lange Geschichte, erzählte genau, was alles passiert war heute, auf dem Bureau und vor Gericht.
Lauter merkwürdige Sachen. Was nur Juristen passieren kann im langen Leben, das passierte Herrn Gontram Tag für Tag. Höchst seltsame Begebnisse, manchmal lustig und komisch genug und manchmal blutig und höchst tragisch.
Nur – nicht ein Wort war wahr daran. Der Justizrat hatte dieselbe unbesiegbare Scheu vor der Wahrheit, die er auch vor dem Bad, ja vor der Waschschüssel hatte, er log, wenn er den Mund aufsperrte, und wenn er schlief, träumte er von neuen Lügen. Jedermann wusste, dass er log, aber jedermann hörte doch gerne ihm zu, denn seine Lügengeschichten waren lustig und gut, und waren sie es einmal nicht, so war doch gut die Art, wie er sie auftischte.
Ein guter Vierziger war er, mit schon grauem, kurzem, sehr lückigem Barte und schütterem Haar. Einen goldenen Zwicker trug er an langer schwarzer Schnur, der stets schief über der Nase hing, und die blauen kurzsichtigen Augen sehen liess. Unordentlich war er, schlampig und ungewaschen, stets mit Tintenflecken auf den Fingern.
Er war ein schlechter Jurist und war sehr gegen jede Arbeit. Die überliess er seinen Referendaren – die aber auch nichts taten, nur zu ihm kamen aus diesem Grunde und sich oft wochenlang nicht sehen liessen im Bureau. Ueberliess sie dem Bureauvorsteher und den Schreibern, die schliefen. Und wenn sie einmal wachten, so machten sie einen Schriftsatz, der lautete: »Ich bestreite.« Und stempelten den Namenszug des Justizrats darunter.
Und dennoch hatte er eine sehr gute Praxis, viel besser wie die des so kenntnisreichen und gewitzten Manasse. Er verstand die Sprache des Volkes und konnte schwatzen mit den Leuten. Er war beliebt bei allen Richtern und Anwälten, weil er nie Schwierigkeiten machte, alles seinen Gang gehen liess. Vor der Strafkammer und vor den Geschworenen war er Goldes wert, das wusste man wohl. Einmal sagte ein Staatsanwalt: »Ich beantrage, dem Angeklagten mildernde Umstände nicht zu versagen: Herr Justizrat Gontram verteidigt ihn.«
Mildernde Umstände – – die bekam er stets für seine Klienten. Aber Manasse bekam sie selten genug, trotz seiner Gelehrsamkeit und seiner scharfen Rede.
Und dann war da noch etwas. Justizrat Gontram hatte ein paar Fälle gehabt, grosse, gewaltige Prozesse, die Aufsehen erregten durchs ganze Land. Hatte sie durchgekämpft durch lange Jahre, in allen Instanzen, und sie schliesslich gewonnen. Dann nämlich erwachte plötzlich in ihm eine seltsame, irgendwo schlafende Energie. So eine völlig verfahrene Sache, ein sechsmal verlorener, beinahe unmöglicher Prozess, der von Anwalt zu Anwalt ging, so ein Fall mit verzwicktesten internationalen Fragen – – von denen er keine Ahnung hatte – – das mochte ihn interessieren. Die Brüder Koschen aus Lennep, dreimal zum Tode verurteilt, hatte er schliesslich doch freibekommen, im vierten Wiederaufnahmeverfahren, trotz eines haarscharfen Indizienbeweises. Und in dem grossen Millionenstreit der Galmeibergwerke von Neutral-Moresnet, in dem kein Jurist in drei Ländern sich auskannte – – und gewiss Gontram am allerwenigsten – – hatte er doch letzten Endes ein obsiegendes Urteil erzielt. Nun hatte er, seit drei Jahren, den grossen Ehegültigkeitsprozess der Fürstin Wolkonski.
Und merkwürdig: nie sprach dieser Mensch je über das, was er wirklich geleistet hatte. Jedem, den er traf, log er die Ohren voll mit seinen frech erfundenen juristischen Heldentaten – – nicht eine Silbe aber kam über seine Lippen über das, was er wirklich durchsetzte. So war es schon: er verabscheute alle Wahrheit.
– Frau Gontram sagte: »Dat Abendessen kommt jleich. Und en Böwlche hab ich auch als anjesetzt. Frischer Waldmeister. – – Soll ich mich noch umziehe jehn?«
»Bleib nur so, Frau,« entschied der Justizrat, »der Manasse hat nichts dagegen.« Er unterbrach sich: »Herrgott, wie das Kind schreit! Kannst du es denn nicht still kriegen?«
Die Frau ging mit langen, langsamen Schritten an ihm vorbei. Oeffnete die Tür zum Vorzimmer; dorthin hatte die Magd den Kinderwagen geschoben. Und sie nahm Wölfchen, trug es hinein und setzte es in den hohen viereckigen Babystuhl.
»Kein Wunder, dat et so schreit!« sagte sie ruhig. »Et is janz nass.« Aber sie dachte nicht daran, es trocken zu legen. »Bis doch still, kleine Teufel,« fuhr sie fort, »siehst du denn nich, dass mer Besuch haben?«
Aber das Wölfchen liess sich durchaus nicht stören durch den Besuch. Herr Manasse stand auf, klopfte es, streichelte es auf die dicken Backen, brachte ihm den grossen Hampelmann zum Spielen. Doch das Kind stiess den Hampelmann fort, brüllte, schrie unaufhörlich. Und Cyklop begleitete es unter dem Tisch her.
Da sagte die Mama: »Wart nur, lieb Zuckerplätzche. Ich hab wat für dich.« Sie nahm den schwarzen, zerkauten Stummel aus den Zähnen und schob ihn dem Baby in den Mund. »Da, Wölfche, dat is lecker!? Wat?«
Und das Kind war still im Augenblick, lutschte und sog, strahlte überglücklich aus grossen, lachenden Augen.
»Na, sehen Se, Herr Rechtsanwalt, wie man mit Kinder umjehen muss?« sagte die grosse Frau. Sicher und still sprach sie, völlig ernst. »Aber ihr Männer versteht nix von Kinder.«
– Die Magd kam, meldete, dass gedeckt sei. Dann, während die Herrschaft ins Speisezimmer ging, schritt sie mit tappigen Schritten auf das Kind zu. »Bäh!« machte sie und riss ihm den Stummel aus dem Mund.
Sofort begann Wölfchen wieder zu heulen. Sie nahm es auf den Arm, wiegte es hin und her, sang ihm ein schwermütiges Liedchen aus ihrer wallonischen Heimat. Doch hatte sie nicht mehr Glück wie Herr Manasse; das Kind schrie nur und schrie. Da nahm sie den Stummel wieder her, spuckte darauf, rieb ihn ab an der schmutzigen Küchenschürze, um das immer noch glimmende Feuer zu ersticken. Gab ihn zurück in Wölfchens roten Mund.
Nahm das Kind, zog es aus, wusch es, gab ihm reine Sachen und bettete es weich in sein Bettchen. Wölfchen rührte sich nicht, liess alles ruhig geschehen, still und zufrieden. Und es schlief ein, selig strahlend, immer in den Lippen den grässlichen schwarzen Stummel.
O ja, sie hatte schon recht, diese grosse Frau. Sie verstand eben was von Kindern. Wenigstens – von den Gontramkindern.
Drinnen speisten sie zu Nacht und der Justizrat erzählte. Sie tranken einen leichten Wein von der Ruwer; erst zum Schlusse brachte Frau Gontram die Bowle.
Ihr Mann schnüffelte kritisch. »Lass doch was Sekt heraufholen,« sagte er.
Aber sie setzte die Bowle auf den Tisch: »Mer han keine Bowlesekt mehr. – – Un nur noch eine Flasch Pommery is im Keller.«
Er sah sie gross an, über seinen Zwicker weg, schüttelte bedenklich den Kopf. »Na, weisst du, du bist eine Hausfrau! Wir haben keinen Sekt und du sagst nicht ein Wörtchen davon? So was! Keinen Sekt im Haus! – Lass die Flasche Pommery heraufholen. – Eigentlich viel zu schad für die Bowle.«
Er wiegte den Kopf hin und her. »Kein Sekt! So was!« wiederholte er. »Wir müssen gleich welchen anschaffen. Komm Frau, bring mir Feder und Papier; ich muss der Fürstin schreiben.«
Aber als das Papier vor ihm lag, schob er's wieder hinüber. »Ach,« seufzte er, »ich hab den ganzen Tag soviel gearbeitet. Schreib du, Frau, ich diktiere dir.«
Frau Gontram rührte sich nicht. Schreiben? Das hätte ihr gerade gefehlt! »Fällt mich nicht ein,« sagte sie.
Der Justizrat sah zu Manasse hinüber. »Wie wär es, Herr Collega? Könnten Sie mir nicht den Gefallen tun? Ich bin so abgespannt.«