Hüben und Drüben. Gerstäcker Friedrich
ist die alte Geschichte, und so viel werdet Ihr auch selber wissen, daß man, wenn eben aufgegriffen, nicht gleich in's Blinde hinein gesteht. Man muß doch erst erfahren, wie der Hase läuft."
Der Alte warf dem Assessor einen halb pfiffigen, halb lauernden Blick zu, aber die wirkliche Sorge um das junge Mädchen verdrängte doch rasch alle anderen Gedanken.
„Es ist nicht denkbar," sagte er dann, mehr zu sich selber als zu dem Fremden redend und immer dabei mit dem Kopf schüttelnd, „gar nicht denkbar. Ja, Ursache genug hätte sie dazu gehabt, um auch zuletzt einen Hasen auf den Mann zu treiben, Ursache die langen Jahre hindurch, die sie's ertragen und keinen Mucks dabei gethan, - aber - es wäre doch zu merkwürdig und - ich glaub's nicht."
„Was wäre merkwürdig?" frug der Assessor.
„Was merkwürdig wäre?" wiederholte der alte Bänkelsänger, „nun daß das Kind die Courage dazu gefaßt hätte, und dann noch dazu gleich von ihrer Mutter Grabe weg, an der sie mit allen Gedanken hängt. Ich glaub's nicht, und wenn der liebe Herrgott vom Himmel herunter käme und sagt' es." /53/ „Aber habt Ihr denn irgend einen Verdacht auf jemand Andern?"
„Ich?" frug der Alte erstaunt, „auf wen soll ich Verdacht haben? Ich liege hier seit acht Tagen krumm und kann keinen Fuß vor den andern setzen, was erfahre ich von der Welt? Aber Feinde hat die Schulzin genug, und er auch - hochnäsiges Bauernvolk, die vor Uebermuth nicht wissen, was sie treiben sollen. Alle Augenblicke wechseln sie auch das Gesinde; es hält's Niemand lange bei ihnen aus, und warum kann's nicht Einer von denen gethan haben? Warum muß es das Kind gewesen sein?"
„Aber sie würde es doch nicht selber eingestehen, wenn es nicht wahr wäre."
„Merkwürdig, merkwürdig!" wiederholte der alte Bursche wieder - aber er schien müde zu werden. Ob ihm die Glieder weh thaten, oder ob er blos die Unterhaltung abbrechen wollte: aber er warf sich auf sein Kissen zurück und schloß die Augen, und da der Assessor ebenfalls kein weiteres Interesse hatte, in dem öden, unbehaglichen Raum zu verweilen, stand er auf und verließ mit einem kurzen Gruß das Haus. Er wußte, daß er hier doch nichts weiter erfahren würde.
Drei Tage später war der alte Bänkelsänger wieder auf den Füßen und so weit hergestellt, daß er sogar den Gang in die Stadt zu Fuß antreten konnte, wenn er sich dazu auch noch eines Stockes bediente. Eigenthümlich blieb nur dabei, wie rüstig er ausschreiten konnte, wenn er sich streckenweise allein auf der Landstraße sah, und wie es ihm plötzlich wieder in den Gliedern zog, wenn ihm ein Wagen begegnete oder ihn überholte. Das hielt ihn auch sehr auf, denn er kam dann nur immer langsam von der Stelle, aber zuletzt erreichte er die Stadt doch und ließ sich dann ohne Weiteres bei dem Assessor melden, den er um eine Unterredung mit der „Falleri" bat.
Der Assessor schien keine rechte Lust zu haben, ihm die zu gestatten, aber er war auch neugierig geworden, zu erfahren, welchen Einfluß der alte Bursche auf das Mädchen ausüben würde, und hatte ihn zugleich dabei im Verdacht, mehr von /54/ dem Brande selber zu wissen, als er für gut fand zu gestehen. Schaden konnte er überdies nicht mehr bringen; die That war von der jungen Verbrecherin ohne Zwang, ohne Zureden offen eingestanden und später wiederholt auf das Entschiedenste bestätigt worden - möglich, daß gerade durch ihn mehr Licht in die immer noch dunkle Sache kam.
Der Alte humpelte mit einem ihn begleitenden Polizeidiener die Treppe hinauf, und der Gang schien ihm sauer zu werden. Auf einem Absatz blieb er halten, um sich zu verschnaufen, und schmunzelte dann leise vor sich hin:
„Es sieht ordentlich natürlich aus, daß ich hier in so anständiger Begleitung abgeführt werde."
„Ist Euch auch wohl schon manchmal passirt, wie?" lachte der Gerichtsdiener.
„Lieber Gott," sagte der Alte, „menschliche Schicksale wechseln; einmal sind wir oben, einmal unten. Ich war auch schon einmal unten."
„Dachte mir's doch," nickte der Mann, „Ihr seht mir auch gerade danach aus."
„Sie scheinen mir Menschenkenner," meinte der Bänkelsänger trocken; „aber ich denke, wir können jetzt eine Station weiter fahren. Wie geht's denn der Falleri?"
„Wem?"
„Nun der Nummer so und so; ich weiß ja noch nicht, unter welcher Firma sie hier logiert."
„Oh, der Edmund, Nummer elf - gut geht's ihr; es fehlt ihr nichts."
„Freut mich zu hören," nickte der Alte, „wäre aber das erste Mal in ihrem Leben, daß es ihr gut ginge - und ein curioser Platz dazu. Aber da sind wir wohl - Nummer elf. Wollen Sie mich dem Herrn Gefängnißwärter vorstellen?"
„Wird wohl nicht nöthig sein," lachte der Mann über die Förmlichkeit des Alten; „hier, Brummer, der Mann da hat Erlaubniß, Nummer elf zu sprechen - eine Viertelstunde!"
„Brummer heißt der Herr? Merkwürdig!" nickte Brenner, „paßt aber gar nicht. Er läßt ja gerade die Anderen brummen und brummt nie mit."
„Thut er nicht, Du alter Schlaukopf?" lächelte der Ge-/55/fängnißwärter, der die Worte gehört hatte, „und brumme ich nicht etwa hier in dem verdammten Nest das ganze Jahr, Sonn- und Feiertage, während die Vögel ein- und wieder ausfliegen? Wer ist da eigentlich der Brummer, heh?"
„Können Recht haben, verehrter Herr," nickte der Alte, „habe eigentlich nie so tief darüber nachgedacht. Wenn Sie jetzt vielleicht so gefällig wären -"
„Mit Vergnügen," nickte der Mann, „und auch wohl für längere Zeit, wenn's sein müßte. Platz genug ist da."
„Möchte Ihnen doch nicht gern beschwerlich fallen," sagte der Bänkelsänger, während Herr Brummer die Riegel zurückschob und die Thür dann aufschloß.
„Hier, Edmunden, da kommt Besuch," sagte er dann, ließ Brenner eintreten und verriegelte die Thür wieder hinter ihm, ohne sie jetzt aber abzuschließen.
Valerie saß auf ihrer Pritsche, ein kleines Gebetbuch in der Hand, das man ihr auf ihre Bitten gegeben hatte - es waren Witschel's Morgen- und Abendopfer2 - und ihre großen dunkeln Augen hafteten auf den Zeilen, als sie das erste Klirren der Riegel hörte. Sie veränderte auch ihre Stellung nicht, als sich die Thür öffnete; der Schließer kam manchmal herein, um ihr Wasser und Brod zu bringen, aber er sprach selten oder nie mit ihr. Sie erschrak jedoch, als sie das Wort Besuch vernahm. Wer konnte sie besuchen?
Trotzdem färbten sich einen Augenblick ihre Wangen, als sie den alten Brenner erkannte, und ihm die Hand entgegenstreckend, sagte sie herzlich:
„Wie mich das freut, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben."
„Hm," brummte der Alte in augenscheinlicher Verlegenheit, indem er einen scheuen, flüchtigen Blick in dem Gemach umherwarf - „vergessen, Falleri? Ich habe immer an Dich gedacht, Kind, Tag und Nacht, und hier - kommt's mir auch beinahe wieder so vor, als ob wir zusammen im Gemeinde-Haus säßen; die „Stube" hier sieht genau so aus, wie die lee-ren Wände da drüben. Aber wir dürfen die Zeit nicht mit Redensarten vergeuden, denn ich habe nur eine Viertel-/56/stunde Erlaubniß und - möchte eine Frage an Dich richten, Falleri."
„Ja, Herr Brenner."
„Du hast gestanden, daß Du das Feuer an jenem Abend angelegt?"
„Ja, Herr Brenner," sagte Valerie leise.
„Aber Du hast's nicht gethan, Mädel!"
„Doch, Herr Brenner," lautete die bestimmte Antwort, „ich hab's gethan und hab's gestanden."
„Es ist nicht wahr, Mädel," fuhr der Alte aber jetzt mit unterdrückter Stimme fort, „Du kannst's nicht gethan haben, denn erstens liegt es nicht in Deiner Natur und dann - bist Du's auch nicht gewesen."
„Doch, Herr Brenner, ich war's," wiederholte Valerie, jetzt wieder mit denselben bleichen Wangen wie vorher; „ich habe es gethan und werde dafür meine Strafe erhalten. Hoffentlich lassen sie mich nicht lange warten," setzte sie noch leiser hinzu.
„Aber Du bist doch erst bei uns draußen gewesen," fuhr der Mann fort, der jetzt Beweisgründe