REMEMBER HIS STORY. Celine Ziegler
und bei Gewittern kenne ich keine Scherze. „Bitte hilf mir einfach“, sage ich leise.
Man sieht ihm genau an, dass er einen Spruch auf den Lippen hat, ihn jedoch runterschluckt. Er nimmt zwei Finger zwischen die Lippen und ein lautes Pfeifen ertönt, was mich kurz aufschrecken lässt.
Der schwarze Hund kommt zu uns gerannt und Nathan dreht sich zu ihm um.
„Nathan, pass auf!“, warne ich schnell und verstecke mich hinter seinem Rücken, damit mich das Tier nicht angreift.
Doch er ignoriert meine Worte völlig und beugt sich zu dem Hund nieder.
Jedoch ziehe ich ihn schnell wieder nach oben, halte seinen Pullover zwischen meinen Fingern gekrallt. „Er wird dich angreifen!“
„Mach dich locker“, sagt Nathan und beugt sich wieder zu dem Hund, streichelt ihm kurz über die Schnauze. „Das ist meiner, mich wird er ganz bestimmt nicht angreifen.“
Mir klappt entsetzt die Kinnlade runter. Das soll Nathans Hund sein? Er streunt hier einfach umher und bellt wildfremde Menschen an, knurrt rum wie ein wildes Tier! Nun gut. Es könnte doch Nathans Hund sein, immerhin sind die beiden genau gleich. Nathan beleidigt auch ständig fremde Leute und verbreitet Angst und Schrecken.
„Allerdings kann ich dir nicht versprechen, dass er dich nicht angreifen wird“, fügt Nathan noch hinzu.
„Sehr witzig“, murmle ich und streiche mir eine nasse Strähne aus der Stirn. Immer wenn ich Nathan begegne, bin ich entweder in Arbeitsklamotten, durchnässt oder sehe fix und fertig aus. Er hat ein sehr schlechtes Bild von mir und mir gefällt das nicht. Und nicht mal zwei Sekunden später donnert und blitzt es laut, was mich leise aufkreischen lässt und mich gleichzeitig dazu zwingt, mich an Nathan zu krallen.
Doch er findet das ganz und gar nicht gut. „Man, was soll die Scheiße?“, flucht er und zieht seinen Arm von mir und geht einen Schritt weg. „Hast du irgendwelche Probleme? Du verhältst dich wie ein weinerliches Kleinkind.“
Sofort schäme ich mich für meine vielen Ängste. Ich kann doch nichts dafür. Konnte ich nie. „Tut mir leid. Ich hatte schon immer etwas mehr … ähm, Angst vor … na ja …“
„Unwetter?“, fragt Nathan mich halb belustigt, halb ernst.
Ich nicke peinlich berührt und sehe auf den Boden. Mir sollte so etwas nicht peinlich sein, immerhin hat jeder Mensch seine Ängste und meine größte Angst ist nun mal die vor Gewittern.
„Scheiße, du bist echt ein weinerliches Kleinkind“, höhnt Nathan und zieht sich seine Kapuze wieder über und dreht sich etwas weg. „Ich verschwinde.“
Und wieder einmal lässt er mich in der Kälte, klitschnass in der tiefsten Dunkelheit stehen. Was ein trauriges Déjà-vu. Deprimierender könnte es kaum sein. Ob ich je ein Wort mit ihm wechseln kann, ohne dass ich mich danach schlechter fühle als vorher? Ist der Stress mit Birmingham und meinen Proben nicht genug?
Niedergeschlagen schlappe ich zum Ende der Sackgasse und gehe die Straße entlang. Ich male mir aus, wie ich gleich zu Hause in meinem warmen Bett liege, wie Mama mich anmeckern wird, weil ich wieder so dreckig bin, doch dann wird es noch schlimmer. Ein Auto fährt mit viel zu schneller Geschwindigkeit an mir vorbei durch eine Schlammpfütze und bedeckt mich von oben bis unten mit Schlamm und Wasser. Entsetzt wische ich es mir aus dem Gesicht und will gerade meinen Violinenkoffer abstellen, da rutsche ich aus und falle geradewegs auf mein Hinterteil in die nächste Pfütze.
Ich könnte heulen. Nein, ich will heulen. Wie ein kleines Kind in den Schlamm trommeln, mit den Beinen strampeln und laut weinen. Verdammtes Schicksal. Verdammtes Karma. Was habe ich denn heute falsch gemacht?
Doch als ich gerade noch meine ersten Tränen aufhalten kann, steht jemand vor mir und hält mir seine Hand hin. Ich muss zweimal hinsehen, um mir auch sicher sein zu können, wer es wirklich ist.
„Steh auf“, sagt Nathan. Es wäre netter gewesen, wenn er es freundlicher gesagt hätte, doch es ist schon ziemlich nett für jemanden wie Nathan, mir überhaupt seine Hand hinzuhalten.
Ich ergreife benebelt seine Hand und sehe ihm in die Augen.
Ich weiß nicht, ob es einfach dieses Wohlfühlgefühl ist, weil mir jemand hilft oder etwas anders ist, das plötzlich ein erwärmendes Gefühl durch meinen Körper sendet. Es ist beinahe verwirrend, doch ich achte nicht weiter darauf, als ich mich von ihm – voll mit Schlamm bedeckt – auf die Beine ziehen lasse.
Nathan lässt meine Hand sofort wieder los, als ich stehe. Ich betrachte meine Klamotten und muss feststellen, dass ich schlimmer aussehe, als ich dachte. Ich bin wirklich völlig bedeckt mit Schlamm, sogar meine Haare sind erneut versaut. So kann ich nicht nach Hause gehen, auf keinen Fall. Grandpa und Grandma kommen heute Abend zum Abendessen und wenn ich so zu Hause durch die Haustür spaziere, wird meine Mutter ausrasten, denn meine Grandma ist eine sehr pingelige Frau. Sie achtet stets auf Ordnung und Perfektionismus. In solchen Momenten vermisse ich meine andere Grandma, Papas Mama. Sie war das komplette Gegenteil von ihr.
Nathan bückt sich nach meinem Violinenkoffer und hebt ihn hoch. Er ist ebenfalls mit Schlamm getränkt und ich sehe jetzt schon das Gesicht meiner Mutter vor meinem geistigen Auge rot anlaufen, weil ich den teuren Koffer kaputt gemacht habe. „Der scheint ganz schön im Arsch zu sein“, sagt Nathan und betrachtet den Koffer.
Ich nehme es ihm ab und sehe ihn traurig an. Der Abend kann nicht noch schlimmer werden.
Nach kurzem Schweigen sagt Nathan: „Wie auch immer. Diabo!“, ruft er und sein schwarzer Teufelshund erscheint wieder hinter einem Gebüsch. „Vielleicht solltest du beim nächsten Mal durch die Straßen laufen, zu denen du auch gehörst.“ Er dreht sich um und läuft davon.
Doch ich kann ihn nicht einfach wegjoggen lassen. Ich kann nicht einfach so nach Hause gehen, ich kann nicht schon wieder Ärger von meiner Mutter kassieren und eine Blamage vor meiner strengen Oma riskieren, ich muss mich jetzt endlich mal was trauen. Deswegen rufe ich: „Nathan!“
Er bleibt stehen, dreht sich jedoch nicht zu mir um. Sein Hund sieht mich misstrauisch an.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und rufe wieder durch den Regen und das Gewitter: „Bitte lass … bitte lass mich nicht so nach Hause gehen.“
Etwas dreht er sich zu mir, doch nicht genug, dass ich sein ganzes Gesicht sehen kann, denn seine Kapuze verdeckt alles. Überlegt er?
Ich presse den Violinenkoffer an meine Brust. „Bitte“, flehe ich weiter, kann mir gleichzeitig aber auch nicht ausmalen, was passieren würde, wenn er mir tatsächlich helfen würde. Das wäre merkwürdig und ich frage mich, wieso ich ihn überhaupt um Hilfe bitte.
Nathan dreht sich wieder nach vorne, doch joggt nicht weiter. Ich höre ihn leise „Scheiße“ vor sich hin fluchen, dann überrascht er mich, indem er sagt: „Ein einziges beschissenes Mal.“
Mehr als baff von seinem Willen, mir wirklich zu helfen, mich mit zu sich zu nehmen, mir zu zeigen, wo er wohnt, wie er so lebt, sammle ich mich schnell und folge ihm. Allerdings laufe ich mit einem sicheren Abstand von knapp zwei Metern hinter ihm, weil ich immer noch nicht einschätzen kann, wie er auf Nähe reagiert und schon gar nicht, wie er reagieren würde, wenn ich genau neben ihm laufe. Dass ich mir mal bei einer Person über solch seltsame Dinge Gedanken machen muss, ist beinahe amüsant, doch gleichzeitig so bedrückend.
Nathan ist einfach so ein merkwürdiger Mensch. Er steckt voller Fragen, die ich endlich beantworten möchte. Vielleicht finde ich Antworten in seinem Zimmer oder wo auch immer er lebt.
Wie erwartet verläuft der Weg zu ihm nach Hause still. Zwar hätte ich ihn alle fünf Meter gefragt, wie tief er noch in diese gruseligen Straßen um uns herumlaufen will, doch dass ihn das nerven würde, habe ich mittlerweile schon verstanden. Er ist sehr reizbar. Doch wirklich wundert es mich nicht, dass er dort wohnt, wo sich sonst niemand hin traut. Er passt hierhin, genauso wie sein Hund zu ihm passt.
Er geht zu einem alten Blockhaus und geht dort zwei kaputte Treppen nach oben, steckt in die alte Tür seinen Schlüssel.