Die Hexe und der Schnüffler. Inga Kozuruba

Die Hexe und der Schnüffler - Inga Kozuruba


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sah ihn nachdenklich an und nickte dann: „In unserer Geschichte hat es keine Alice gegeben, weil unsere Lady Ellie... alle ihre Möglichkeiten genutzt hatte. Mein Bruder und ich könnten sicherlich eine Situation arrangieren, in der das Mädchen zu Alice werden – oder sich von ihrem Einfluss ein für alle Mal loslösen könnte. Aber ich muss Sie warnen: Wenn alles erst einmal ins Rollen kommt, dann kann keiner von uns vorhersagen, was am Ende rauskommen wird. Es wird alles von diesem Mädchen abhängen.“

      Andy hielt dem schweren Blick ihrer finsteren Augen stand und nickte nachdenklich: „Sie wird also eine Chance haben zu begreifen, was sie wirklich will?“

      Astasia nickte: „Glauben Sie wirklich, dass ich nach all dem, was mir widerfahren ist, zulassen würde, dass auch nur eine einzige Seele einer vergleichbaren Tortur unterzogen wird? Wenn sie gegen ihren Willen zu Alice verformt werden soll, dann wird sie eine Möglichkeit finden, sich zu befreien. Wenn sie jedoch Alice werden will – dann wird es so sein. Wir werden diejenige willkommen heißen, die für meine Freiheit ihr Leben geopfert hat.“

      Jack sah in die Runde, als ob er noch etwas sagen wollte, aber dann blieb er weiterhin stumm. Sein Blick wanderte weiter zu Astasia, traf sich erneut mit ihrem, bohrte sich eindringlich hinein, das Gesicht eine einzige Frage. Ihre Augen weiteten sich voller Schrecken, dann nickte sie, noch blasser als sie es ohnehin schon war, sogar ihre Lippen kreidebleich. Jack lächelte schwach. Verwundert bemerkte Andy, wie Arina, die den Platz neben Astasia hatte, ein wenig unruhig wurde. Dann zog sie einen Taschenspiegel heraus und wirkte ganz und gar so, als würde sie den Sitz ihrer Haare korrigieren und sich die Nase pudern. Astasia nieste leise.

      Andy nickte mit einem Seufzer. Offensichtlich blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf diesen Plan einzulassen. Arina räusperte sich: „Nun, da das alles geklärt ist – hier gibt es noch eine Kleinigkeit, die mit der ganzen Geschichte zu tun hat. Die gnadenlose Kanzlerin sinnt immer noch auf Rache, und über kurz oder lang wird sie euch alle gern tot sehen. Aber da Andy ihr am schwächsten erscheint, fängt sie mit ihm an. Steve hat mich gebeten, ihr ein paar Steine in den Weg zu legen, aber ich tauge nicht besonders gut als Leibwache und will auch nicht den Kugelfänger spielen. Ach ja, und ein Zuhause hat er momentan auch nicht.“

      Ein Seufzer ging durch die Runde – mal mit der Tönung der Müdigkeit, mal der Langeweile, mal der Traurigkeit und auch der Gleichgültigkeit –, dann lächelte Agent Mens höflich: „Das wiederum ist ein leicht lösbares Problem. Das Hotel hat für solche Notfälle immer einige Zimmer reserviert und ich denke, mit Agent Lewson werden Sie auch gut zurechtkommen. Er wird Sie gleich an der Station abholen und ins Hotel bringen. Welche Reservierung brauchen Sie?“

      „Zwei Einzelzimmer“, antwortete Andy ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken.

      Agent Mens nickte: „Gut. Man wird alles vorbereiten bis sie dort ankommen. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, wird Agent Lewson alles weiterleiten.“ Dann sah er Arina prüfend an: „Sie hatten auch schon mit ihr zu tun?“

      Sie blinzelte verwirrt: „Mit wem? Ach, mit der Gnadenlosen? Ja und nein, also zum Glück nicht direkt. Das ist etwas umständlich zu erklären und auch nicht wirklich wichtig.“

      Agent Mens nickte, aber wiederum war ihm anzusehen, dass er sich mit dieser Aussage nur fürs Erste begnügen würde.

      Der Tornado fuhr unterdessen in eine andere Station ein. Sie lag in einem vollkommen anderen Teil der Stadt und war für gewöhnlich nicht ohne mindestens ein einmaliges Umsteigen zwischen den verschiedenen Linien zu erreichen. Während der Einfahrt nahmen die Sitze wieder ihre gewohnte Aufstellung in zwei Vierergruppen ein.

      Andy erhob sich: „Also gut... ich werde morgen erneut in die Wohnung gehen und versuchen, den Schatten den Sachverhalt zu erklären. Danach seid ihr dran.“

      Andy und Arina verabschiedeten sich knapp von den anderen, die ihr Äußeres wieder mit der bereits bekannten Tarnung versehen hatten, und stiegen aus. Wie angekündigt wartete Rick bereits auf sie. Und ähnlich wie Jack und Avera hatte auch er sich verändert. Wie die beiden Zwillinge wirkte er nun gute zehn Jahre älter und war nun markant stärker und männlicher geworden, wenn auch immer noch etwas schlanker als sein Vater Leo es zum Zeitpunkt seiner ersten Bekanntschaft mit Elaine gewesen war. Die Haare trug er nun schulterlang, sie waren durch ein Band am Hinterkopf zum Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Kleidung erinnerte Andy an die von Agent Boca, das Namensschild war entsprechend auf „Lewson“ ausgestellt. Am Ärmel der Uniform entdeckte Andy das Logo des Hotels, an das er sich nach kurzer Überlegung erinnerte. Es war sicherlich das unauffälligste Hotel der Stadt, auch eines der ältesten. Allerdings war es weder glamourös noch verrufen, weder luxuriös noch erbärmlich.

      „Guten Morgen“, sagte Rick nach einem kurzen Blick auf eine einfache, analoge Armbanduhr, die alles andere als kostspielig war. Seine Stimme hatte den Stimmbruch offensichtlich hinter sich und kam nun als ein angenehmer Bariton daher.

      „Guten Morgen“, lächelte Arina ihn an. „Ich hoffe, ich kann meinen Schönheitsschlaf gleich nachholen.“

      Rick lächelte höflich: „Das versichere ich Ihnen, auch wenn Sie das sicher nicht brauchen.“

      Arina schmunzelte, Andy rollte mit den Augen. Rick führte sie dann ohne weitere Umschweife zum Hotel, wo sie ohne Zwischenfälle einchecken konnten. Andy hatte beinahe erwartet, denselben Mann an der Rezeption vorzufinden, den er schon in der Hauptstadt gesehen hatte. Aber dem war nicht so. Stattdessen nahm eine junge Frau ihre Personalien auf und überreichte ihnen die Schlüsselkarten. Da entdeckte Andy, dass Arina einen osteuropäisch anmutenden Nachnamen hatte, den er jedoch nicht genau verstand. Sie verabschiedete sich mit einem hastigen Gute-Nacht-Wunsch von ihm und verschwand auf ihrem Zimmer, so dass er nicht dazu kam, sie nach ihrem Nachnamen zu fragen.

      Im Halbschlaf nahm Andy noch eine kurze, heiße Dusche und fiel dann wie ein Stein ins Bett. Er glaubte, aus Arinas Zimmer nebenan noch Geräusche gehört zu haben, aber da war er schon zu müde um auch nur einen Anflug der Neugier zu verspüren und genauer hinzuhören. Der Schlaf traf ihn wie ein Hammerschlag.

      Zwischenspiel 1

      Steve rannte um sein Leben. Seine schnellen Schritte hallten durch die menschenleeren Straßen einer schlafenden Stadt, und hinter ihm donnerten die Stiefel seiner Verfolger und das Knurren und das Gebell ihrer Hunde. Ihm war ein Fehler unterlaufen. Allerdings würde die Gnadenlose nur indirekt davon profitieren, wenn er an diesem Fehler starb. Er hätte sich nicht mit Arina in Verbindung setzen sollen, das wurde ihm im Nachhinein klar, als er versuchte, eine schlauere Ratte im Labyrinth zu sein als die Meute hinter ihm. Nun würde er nicht mehr aus der Sache herauskommen, ohne einen seiner kostbaren verbliebenen Gefallen einzulösen. Er zückte im Laufen sein Handy, und zischte es an, um den Kontakt zu einem Transporter herzustellen. Dieser Gefallen würde ihn eines Tages teuer zu stehen kommen, aber es gab keinen anderen Ausweg außer den Gaben des einzigen ihm bekannten, abtrünnigen Psi-Talents Jimmy. Nur er war in der Lage, die Schutzmauer zu durchbrechen, die Steve daran hinderte, selbst irgendwo anders hinzugehen.

      Doch das Telefon reagierte nicht. Er bekam die Stimme nicht hin. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Steve, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. Seine Verfolger kamen immer näher. Er saß in der Falle, abgeschnitten von der Quelle seiner Kraft, reduziert auf den menschlichen Körper und den Verstand darin, ein hochkomplexes, biomechanisches Kunstwerk, das in dieser Situation jedoch leider nicht genug war. Seine Optionen waren zusammengeschrumpft auf eine Handvoll Aktionen und Reaktionen. Und seine Kraft näherte sich ihren Grenzen. Ohne Adrenalin und Willenskraft wäre er längst zusammengebrochen.

      Für eine Finte oder ein Ablenkungsmanöver hatte er nicht mehr genug Zeit. Menschen hätte er täuschen können, aber Bluthunde, die waren eine ganz andere Hausnummer. Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven und kletterte über einen hohen Zaun in einen Hinterhof, um sich durch die kleinen, privaten Grundstücke hindurch zu mogeln. Er hoffte, dass seine Verfolger durch diese Aktion mindestens genauso verlangsamt werden würden wie er. Er wusste nicht mehr, wie lange seine Beine noch seinem Willen gehorchen würden. Tatsächlich versagten sie ihm nach dem sechsten Zaun den Dienst. Er stolperte mehr als er lief durch einen verwilderten Garten,


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