Die Hexe und der Schnüffler. Inga Kozuruba

Die Hexe und der Schnüffler - Inga Kozuruba


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in den Fenstern derjenigen gewesen, die aus dem einen oder anderen Grund noch wach waren, dann hätte man die Gegend für ausgestorben halten können. Das unterschiedliche Muster der glimmenden Rechtecke war auch der einzige Hinweis darauf, dass sie sich nicht längst im Kreis bewegten. Zum Glück war er jedoch nicht mehr in dieser einen, besonderen, verrückten Hauptstadt, wo so etwas vermutlich an der Tagesordnung war, stellte Andy erleichtert fest.

      Er wollte am liebsten nicht daran zurückdenken, konnte aber dennoch nichts dagegen tun, dass seine Gedanken für kurze Zeit zu seiner Ankunft in der Hauptstadt der anderen Welt zurückkehrten, in die ihn seine verbissene, manische Suche nach der vermissten Elaine geführt hatte. Es war eine Stadt, die oberflächlich betrachtet genauso war wie alle anderen Großstädte, die etwas von jeder einzelnen Hauptstadt hatte, die er kannte oder sich vorstellen konnte, aber in ihrem wahren Kern die Ausgeburt eines Alptraums war, in dem nichts sicher sein konnte, in dem jederzeit die Regeln von Raum und Zeit, von Logik und Vernunft außer Kraft gesetzt sein konnten. Und selbst wenn diese Abweichungen von der Norm nur subtil in Erscheinung traten, so konnten sie früher oder später genügen, um einen Mann wahnsinnig zu machen. Es war kein Ort, an dem er für den Rest seines Daseins leben wollte – und doch, inzwischen wäre er vielleicht sogar in der Lage dazu. Sein Aufenthalt dort hat einige Dinge in ihm unwiederbringlich verändert. Allein die Tatsache, dass er jetzt mitten in der Nacht mit einer Hexe auf den Straßen unterwegs war, um eine weitere Vermisste aus den Klauen einiger durchgeknallter, amoralischer Bewohner dieser anderen Welt zu retten, war der Beweis dafür. Jeder Mensch mit nur einem Quäntchen an Vernunft in seinem Schädel würde einen weiten Bogen um solche Angelegenheiten machen. Er muss verrückt geworden sein. Und tief in seinem Inneren genoss ein Teil von ihm diesen Gedanken, was ihn so erschreckte, dass sein Bewusstsein sich lieber erneut in seine physische Gegenwart floh.

      Wie schon zuvor war die Eingangstür des Gebäudes nicht abgesperrt. Noch immer hatte sich niemand um das defekte Schloss gekümmert. Andy schüttelte den Kopf über so viel Gleichgültigkeit und ging hinein. Arina folgte ihm so leise sie konnte. Die Dunkelheit einer ihnen nicht vertrauten Gegend baute langsam wieder eine unangenehme Spannung auf, die sich nach und nach in schnellerer, flacherer Atmung, einem schnelleren Herzschlag und vor Dunkelheit ohnehin noch stärker geweiteten Pupillen bemerkbar machte.

      Im Treppenhaus war es bis auf das von der Straße hereinbrechende, schwache Licht der Straßenbeleuchtung stockfinster. Dennoch hielt Arina Andy davon ab, den Lichtschalter zu betätigen: „Es lenkt nur unnötige Aufmerksamkeit hierher“, flüsterte sie ihm zu.

      Er zuckte mit den Schultern und tastete sich blind in Richtung des Aufzugs. Kaum hatte er ihn per Knopfdruck angefordert, schwangen schon die Türen auf und er blendete sie mit dem aus der Kabine ausströmendem hellen Licht. Andy zuckte leicht zusammen, da er den Aufzug nicht ausgerechnet im Erdgeschoss erwartet hätte. Es war als ob er nur auf sie gewartet und gelauert hätte. Aber dann ermahnte Andy sich, dass es nur ein einfacher Zufall sein musste, und trat ein. Arina folgte ihm nach. Sie kamen ohne auch nur einen einzigen merkwürdigen Zwischenfall im richtigen Stockwerk an. In der normalen Welt trachteten Aufzüge einem nicht nach dem Leben, im Gegensatz zur Hauptstadt, und das war gut so.

      Die Beklommenheit wich in Andys Fall bald der Verärgerung, als er vor der abgeschlossenen Wohnungstür stand und natürlich nicht bedacht hatte, wie er hineinkommen wollte. Er fluchte leise. Arina schmunzelte und zog nach einer kurzen Suche etwas aus ihrer Tasche hervor.

      „Ich bin noch nie ein braves Mädchen gewesen“, kommentierte sie, und machte sich daran, mit Haarnadeln im Schloss herumzustochern. „Für die einfachen Haustüren reicht das allemal“, fügte sie hinzu. Ohne Licht dauerte es eine Weile, bis Arina endlich fertig war. Aber zu Andys Überraschung schaffte sie es tatsächlich, die Tür zu öffnen. Er ignorierte bewusst die polizeilichen Siegel an der Tür und hoffte, dass dieser Einbruch schon bald keine Rolle mehr spielen würde, wenn Tina wieder sicher dort war, wo sie hingehörte.

      Diesmal musste Arina ihn nicht ermahnen, das Licht ausgeschaltet zu lassen. Das plötzlich stark aufkeimende Verlangen nach mehr Licht, kämpfte er ganz automatisch nieder. Es war eine Sache, Licht im Treppenhaus eines Gebäudes mit mehreren Stockwerken zu sehen, aber eine ganz andere, wenn in einer abgesperrten Wohnung plötzlich mitten in der Nacht das Licht anging.

      Arina flüsterte ihm zu: „Ich bleibe lieber hier an der Tür, nur für alle Fälle. Wenn es Ärger geben sollte, dann kann ich dir ja immer noch irgendwie zu Hilfe kommen, aber es ist besser, wenn sie erst mal nicht wissen, dass du nicht alleine bist.“ Andy nickte und bewegte sich weiter in die Wohnung hinein.

      Die Tür zu seiner linken interessierte ihn wenig. Das kleine Badezimmer dahinter beinhaltete zwar auch einen Spiegel, der wie gewohnt über dem Waschbecken angebracht war, aber wenn er schon die großen Spiegeltüren des Kleiderschranks zur Verfügung hatte, dann sollte er sich an die halten. Also tastete er sich durch die Finsternis nach vorne, in den einzigen großen Raum des Appartements, der Schlafraum, Wohnzimmer und Küche zugleich war.

      Das durch das Fenster einfallende Licht genügte gerade so, damit sich die Konturen der Möbel von den weißen Wänden des Zimmers abheben konnten, und um einzelne weiße Gegenstände wie die losen Papierblätter auf dem Schreibtisch am Fenster erkennen zu können. Obwohl Andy so wenige Details wahrnehmen konnte, beschlich ihn sofort das ungute Gefühl darüber, dass etwas an diesem Anblick ganz und gar nicht stimmte. Und wie bei einem Suchbild machte er sich nun daran, das Zimmer mit seinem Spiegelbild abzugleichen, denn genau dort vermutete er die Ungereimtheit.

      Plötzlich blieb sein Blick an einem Ausschnitt des Spiegels hängen: Da lag etwas Weißes, vermutlich ein Kleidungsstück, zusammengeknüllt unter dem Schreibtisch. Als Andy seinen Blick vorsichtig zur Seite schwenkte und am entsprechenden Ort im Zimmer nachsah, erstarrte er. Dort war nur Dunkelheit, von irgendwelchen Gegenständen keine Spur. Ganz langsam drehte er seinen Kopf nun wieder nach links zum Spiegel und keuchte vor Schreck und Überraschung. Anstelle seines Spiegelbilds stand an der Stelle das verschwundene Mädchen und starrte ihn mit einer Mischung aus ätzendem Misstrauen und unverhohlenem Hass an.

      Eine mögliche Rettung

      Andy blieb wie angewurzelt stehen und starrte zurück. Das Schlimmste an der Erscheinung im Spiegel war noch nicht einmal, dass sie nur dort existierte. Es war vielmehr so, dass Andy nicht nur Tina sah. Es war nicht nur dieses hübsche, modisch gekleidete, und eigentlich absolut normal aussehende Mädchen im Spiegel zu sehen. Er hatte das Gefühl, dass er eine doppelt belichtete Fotografie vor sich hatte, mit einem schwachen Schatten, der Tinas Erscheinung wie einen Geist überlagerte. Das war unverkennbar Alice mit ihren kunstvoll hochgesteckten Haaren, ihrem blutroten, dunklen, viktorianischen Kleid und den großen, finster umschatteten Augen, die voller Schmerz und Trauer ins Leere blickten und im Grunde für alles um sie herum blind zu sein schienen. Sie waren mehr tot als lebendig. In Tinas Augen loderte stattdessen der Zorn. Sie fixierte ihn aufmerksam mit ihrem Blick und Andy hatte das unangenehme Gefühl, als würden sich unzählige, winzige Häkchen in seine nackte Haut bohren, dort wo ihr Blick gerade verweilte. Nun, wo er sie ansah, umrahmte dieses schmerzlich pieksende Gebilde sein Gesicht.

      Er überwand seinen anfänglichen Schrecken und insbesondere das Bedürfnis, sich Arinas Anwesenheit erneut zu versichern. Ein einziger Blick in ihre Richtung, egal wie kurz, hätte sie verraten. Stattdessen blieb seine Aufmerksamkeit gänzlich beim Spiegel und er tat einen vorsichtigen Schritt nach vorne.

      Plötzlich begann das auf dem Schreibtisch stehende Telefon zu klingeln. Das Geräusch zerfetzte schrillend die Stille der Nacht. Vorsichtig näherte Andy sich dem Gerät und hob ab. Er hoffte, dass keiner der Nachbarn davon wach geworden war. Das Mädchen fixierte ihn immer noch, streckte aber einen Arm in einer ruckartigen, schnappenden Bewegung in die Richtung des spiegelbildlichen Telefons aus. Andy führte den Hörer an seinen Kopf. Das Mädchen spiegelte diese Bewegung, wobei bei Andy der Eindruck entstand, dass sie ihm das Einschlagen des Kopfes andeutete.

      Noch schwieg sie. Dennoch hörte Andy irgendwelche Geräusche aus dem Hörer: Eine Mischung aus statischem Rauschen, dem Klang einer auf der zu Ende gespielten Schallplatte hüpfenden und kratzenden Nadel, das Rascheln von Blättern und Papier im Wind, das Rieseln von Sand und mit etwas


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