Die Pferdelords 08 - Das Volk der Lederschwingen. Michael Schenk
man
den Gipfel verlassen und in die Ebenen von Rumak hinabsteigen. Nur dort
gab es noch ausreichend Wild. Doch in den Ebenen herrschten schon seit
Langem die Orks des Schwarzen Lords. Solange der Gelbstein den Feueratem
der Lederschwingen verstärkte, waren die Krieger der Finsternis zwar keine
Gefahr. Aber nun, da er selten wurde, hatte der Rat der Schwingenreiter
verkündet, dass man in einigen Jahren wohl eine neue Heimat suchen müsse,
hoch oben im Norden. Für die Schwingen und ihre menschlichen Freunde war
der Norden unbekanntes Land. Dort sollte es Zwerge und Elfen geben und
sogar Menschen, die noch immer im Krieg mit den Orks lagen. Man musste
einen neuen Horst finden, der ebenso unerreichbar in eisigen Höhen lag, und
man brauchte neue Vorkommen von Gelbstein. War beides gefunden,
könnten die Bodenläufer ihre Kämpfe ruhig austragen, denn das Volk der
Lederschwingen bliebe davon unberührt.
Anschudar verlagerte sein Körpergewicht auf den rechten Steigbügel.
Showaa folgte bereitwillig seinem Wunsch und schwenkte in eine leichte
Rechtskurve. Sie gewann zusehends an Sicherheit in ihren Bewegungen. Der
Wind strich nun unangenehm in Anschudars Gesicht, und seine Augen
begannen zu tränen. Den Lenkstab in der Rechten, griff er mit der linken
Hand unter die Kapuze seiner Felljacke. Er spürte die Glätte des Helms, den
alle Schwingenreiter trugen. In den kalten Gefilden, in denen die Schwingen
lebten, waren die sorgfältig geschnitzten und bearbeiteten Holzhelme weit
angenehmer zu tragen als die rasch auskühlenden Metallhelme. Anschudar
tastete nach dem gekrümmten Schild aus Klarstein und klappte es vor seine
Augen. Auch wenn seine Sicht nun leicht verzerrt war, bedeutete es für sie
doch eine Erholung.
Fernab entdeckte er einen winzigen Punkt am Himmel. Es war eine
Schwinge, die in ihrer einsamen Wache um den Horst kreiste. Anschudar
lächelte unmerklich. Nun war er selbst ein Schwingenreiter, und bald würden
solche Streifenflüge ebenfalls zu seinen Aufgaben gehören. Er wandte sich
um, und was er dort sah, gefiel ihm nicht. Dunkle Wolken begannen sich am
Horizont zusammenzuballen, und Anschudar meinte das Leuchten von
Blitzen zu erkennen. Ein Gewittersturm braute sich zusammen, und es sah
ganz danach aus, als würde es ein ungewöhnlich starker werden.
Anschudar mochte keine Gewitterstürme, und für die Lederschwingen
waren sie sogar gefährlich. Wenn ein starker Blitz dicht genug an einem der
Flugwesen entlangfuhr, dann konnte er das Gas in dessen Brennkammern
entzünden, und das Wesen verging in einem Feuerball. Nein, die Schwingen
mieden die Gewitterstürme, und wenn ein solches Unwetter den Horst
bedrohte, zogen sich die Flugwesen in ihre Felsnischen zurück. Daher
beobachtete Anschudar den Gewittersturm mit wachsendem Unbehagen. Die
finstere Wolkenwand wurde größer und kam immer näher. Der junge
Schwingenreiter überlegte. Es sah ganz danach aus, als würde der Sturm das
Gebirge von Uma’Roll erreichen. Das wäre schlecht. Die Blitze entluden sich
meist an den höchsten Gipfeln, und auf dem allerhöchsten lag seine Heimat,
der Horst.
»Zeit, nach Hause zu fliegen, Showaa«, seufzte Anschudar. Er verlagerte
sein Gewicht auf den linken Steigbügel und drückte mit dem Lenkstab gegen
Showaas linke Halsseite.
Die Schwinge stieß einen leisen Schrei aus, und es war offensichtlich, dass
sie froh darüber war, dem Gewittersturm die Schwanzseite zu zeigen.
Instinktiv hatte sie erkannt, dass von der herannahenden und von Blitzen
durchzuckten Finsternis Gefahr ausging. Showaa neigte sich vor und ging in
einen steilen Sturzflug über. Sie gewann an Geschwindigkeit, fing dann ihren
Flug über den unteren Ausläufern des Gebirges ab und stieg mit raschen
Schwingenbewegungen wieder auf. Die Sonne stand in ihrem Rücken, und
Anschudar konnte sehen, wie Showaas Schatten über die Felsen glitt. Für eine
Weile genoss er diesen Anblick, bis ihm bewusst wurde, dass noch ein
anderer Schatten über das Land raste: der Schatten des Gewittersturms, der
sich viel zu schnell näherte. Donner begann die Luft zu erfüllen, und die
Berge des Uma’Roll warfen das Echo vielfach und verstärkt zurück. Es würde
knapp werden.
Vor ihnen tauchte der Horst auf, ein nicht besonders großes Plateau, das in
der Nähe des Geburtsfelsens lag. Auch hier ragte am Rand eine Felsnadel auf,
doch sie war nicht so hoch und lag auch nicht an einem Steilhang, weshalb sie
für den ersten entscheidenden Sturzflug der Schwingen ungeeignet war. Das
Plateau war von einem Wall umgeben, der aus eiförmigen Gebilden bestand.
Ein Teil davon diente den Flugwesen als Unterschlupf, andere waren von den
Menschen ausgebaut und für ihre Bedürfnisse eingerichtet worden. Die
Bauten ähnelten den Eiern der Lederschwingen, waren jedoch wesentlich
größer. Sie bestanden aus Bruchsteinen und einem Ferment der Flugwesen,
welches das Gefüge verband. Die äußere Hülle bestand aus demselben
Material wie die Schale der Eier und trotzte jedem Wetter. Das Innere ihrer
Behausungen hatten die Menschen liebevoll gestaltet, Zwischendecken hatten
sie eingezogen und Türen und Fenster eingesetzt. Das Holz war in
gemeinsamer Anstrengung aus den Tiefebenen heraufgeschafft worden.
Unterhalb der Bauten klebten schalenförmige Gebilde am Fels. In ihnen
wurden Dung und organische Abfälle gesammelt und fermentiert, die
Grundlage für eine bescheidene Getreidezucht. Vier besonders große Schalen
waren rund um den Horst verteilt und dienten der Speicherung von Wasser.
Da sich jedoch die meisten Regenwolken unterhalb des Horstes entluden,
mussten Schnee oder Eis von den Gebirgsgipfeln geholt werden, um sie zu
befüllen. Doch davon gab es reichlich, sodass kein Wassermangel herrschte
und eine der Zisternen den Schwingen sogar als Badegelegenheit diente. An
der Felsnadel befand sich das einzige Gebäude, dessen