Der Fremde und das Dorf; Die Gesichte der Blinden. Helmut H. Schulz
Tourist, dachte sie, denn es verirrten sich doch immer wieder gut gekleidete Reisende in das abgelegene Dorf auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen. Maria beachtete den Wagen nicht weiter, er ging sie nichts an. Sie schritt an der Schenke vorbei, drehte aber wieder um. Das Olivenöl, das sie brauchten, konnte sie ebenso gut gleich einkaufen. Sie ging die paar Schritte zurück zur Schenke. Die Tür stand offen. Im Schankraum hielten sich einige junge Männer auf. Sie tranken billigen Wein und unterhielten sich laut. An der Wand hinter der Theke hob sich ein Regal bis an die Decke, angefüllt mit Flaschen und Gläsern. Links und rechts daneben konnte man in die Vorratskammern gelangen. Perlenvorhänge schlossen sie gegen neugierige Blicke ab.
Am Schanktisch stand Luca, der Angestellte, ein typischer Sizilianer, untersetzt, mit ausgeprägten Gesichtszügen. Er bemerkte als Erster die Frau, die an der Tür stehen blieb.
"Guten Abend, Signora Rossa", rief er, "kommen Sie doch herein."
Maria Rossa grüßte lächelnd zurück und ging auf einen freien Stuhl zu. Sie ließ ihre dunklen Augen freundlich über die Jungen gleiten, während Luca die Ölflasche besorgte. Sie zahlte und war gerade im Begriff sich zu erheben, als sie durch eine Entdeckung festgehalten wurde, die ihr das Blut stocken ließ.
Er trug einen Anzug aus leichtem Stoff. Am linken Handgelenk blitzte eine Uhr. Dann sah sie sein Gesicht und was sie bisher nur halb wahrgenommen, das suchte sie jetzt mit brennenden Augen.
Der Kopf des Mannes saß auf einem kurzen Hals. Der Hinterkopf war stark gewölbt. Er hatte wenig Haar, aber dichte, buschige Brauen, eine sehr starke, schöne Nase und stechende Augen.
Maria Rossa ging wie im Traum aus der Schenke, an den Jungen vorbei, ohne deren Grüße zu erwidern.
Sie eilte nach Hause und ließ sich auf das Bett in ihrer Kammer fallen.
Banducci aber hockte auf seinem alten Platz und blinzelte in die untergehende Sonne. Als sich Maria Rossa nicht meldete - er wusste sie im Hause -, erhob er sich ächzend aus seinem Stuhl und kletterte die Stiege hinauf in ihre Kammer. Dort setzte er sich schwerfällig in den einzigen Stuhl aus geflochtenem Rohr. Sie beachtete ihn nicht, sondern starrte die Decke an. Banducci schwieg. Er hatte gelernt, zu warten.
"Was ist? Bist du krank?", fragte er endlich, seine Gegenwart in Erinnerung bringend, aber auch, weil ihm ihr Schweigen merkwürdig vorkam.
Ist es möglich, dachte Maria Rossa, die Schatten sind mir nachgereist? Sie liegen in der Erde und schlafen, aber können sie denn das? Der Himmel ist blau über ihren Gräbern und die Erde rissig, aber können sie denn schlafen?
"Es sind zu viele Gräber", sagte sie unvermittelt aus ihren Gedanken heraus.
Banducci hob überrascht seine dunklen Augen, die schlecht zu den grauen Haaren und der hinfälligen Gestalt passten.
"Weshalb meinst du das", fragte er.
Die Frau machte eine heftige Gebärde. "Sie sind am elften September des Jahres neunzehnhundertvierundvierzig in unser Dorf gekommen. Auf ihren Stiefeln war Staub, in ihren Gesichtern der Tod. Er zog auf ihrer Straße mit. Es war ein früher Morgen. Sie suchten ein Dutzend Männer aus, führten sie vor das Dorf und erschossen sie.
Banducci sah sie an, als verstünde er den Sinn ihrer Worte nicht. Es fiel ihm schwer, Beziehungen zwischen diesem Ereignis und seiner Mieterin herzustellen.
"Die Toten sind nicht still in ihren Gräbern, und Gott müsste viele Söhne haben, wollte er alle Sünder erlösen."
Banducci schüttelte müde den Kopf. "Der Tod war überall in jenen Tagen", sagte er.
Die Rossa richtete sich auf. "Du hast recht", sagte sie, "der Tod war überall. Wir haben die Toten begraben. Sie lagen da in ihrem Blut, und wir haben die Erde für sie aufgetan. Mehr konnten wir damals nicht tun."
Banducci nickte. "Mehr kann man nicht tun", sagte er, "nun ist das vorbei."
"Der Mörder sitzt in der Osteria", sagte Maria Rossa hart.
Banduccis Augendeckel hoben sich, flatterten wie aufgeschreckte Vögel und fielen dann wieder über die Augäpfel. "Der Mörder sitzt in Brandos Schenke? Woher willst du das wissen?"
Maria Rossa sah ihn überlegen an. "Woher? Ich habe ihn gesehen, und so viel Licht ist noch in meinen Augen, dass ich ihn erkenne."
"Was willst du tun?", fragte Banducci nach einer Pause.
Die Rossa stand auf. "Als der Krieg zu Ende war, bin ich weggezogen", sagte sie. "Ich mochte nicht mehr in dem Dorf leben. Es konnte dort nicht mehr so sein wie früher. Wie die anderen es ertragen haben, weiß ich nicht. Ich bin hierher gekommen, zu den Leuten ins Gebirge, aber richtig gelebt habe ich nie mehr. Das merke ich jetzt, nachdem ich den Mann wiedergesehen habe, der in unserer Schenke sitzt, unseren Wein trinkt, so gleichmütig, wie er unser Blut vergossen hat."
Sie zog sich erregt ihr schwarzes Tuch um die Schultern. "Ich muss sofort gehen", sagte sie, "ehe er wieder wegfährt mit dem Wagen."
"Maria", sagte Banducci, "du weißt also nicht genau, ob er es ist. Dann warte noch, bis du ruhiger bist. Vielleicht ist er es nicht, und du hast dich geirrt? Was gehen dich die Toten deines Dorfes an? Du lebst jetzt bei uns in den Bergen." Er hob beschwörend die Hände, als wollte er sie zurückhalten.
"Unter den Toten war mein Sohn", sagte die Rossa mit versagender Stimme.
"Die Madonna schütze dich", sagte er leise. Als er aufblickte, war das Rechteck des Türrahmens leer.
Maria Rossa eilte die steinige Straße ins Dorf hinab, entlang an den Mauern, die ihr den Weg vorzeichneten. Auf den Gesteinsbrüstungen vor den Häusern standen die Frauen in ihren schwarzen Gewändern. Einige hielten Kinder auf den Armen. Sie standen regungslos wie Statuen, ohne zu reden.
Endlich sah die Rossa den Platz des Dorfes. Vor dem Standbild der Muttergottes hielt sie einen Augenblick. Es würde das Herz beruhigen, die Madonna in diesem Augenblick zu sehen, eine Mutter, die ihr Sorgenkind auf dem Arm trug, das eines schrecklichen Todes gestorben war. Maria Rossa wandte sich halb zur Seite und schlug hastig ein Kreuz. Verzeih mir, Heilige Jungfrau, dachte sie, aber du wirst meine Eile verstehen.
Sie riss sich auf und verschob das Gespräch mit der Muttergottes auf später. Weiter, die Zeit drängte. Der Wagen, wo war der Wagen? Er stand nicht mehr vor der Osteria. Der Fremde war fort. Sie flog förmlich durch die Tür der Schenke und hielt erschöpft inne. Ihr Erscheinen in diesem Zustand bewirkte, dass die lautesten Stimmen abbrachen.
"Wo ist der Fremde?", fragte sie außer Atem.
Die Leute traten näher. Luca und Cesare, ein sonnenverbrannter Bursche mit klarem Kopf, wechselten Blicke miteinander. Cesare sah Luca fragend an. Der hob bedauernd die Schultern. Sie warteten auf eine Erklärung.
Dann hielt Cesare es nicht mehr aus.
"Ist etwas mit dem Fremden?", fragte er.
Maria hatte sich inzwischen soweit erholt, dass sie sprechen konnte.
"Wo ist der Fremde?", fragte sie noch einmal und sah angstvoll in die Gesichter.
"Keine Ahnung", sagte Luca, "wollten Sie etwas von ihm?"
"Ja", sagte Maria Rossa, "ich will etwas von ihm."
"Dann warten Sie nur hier", sagte Luca, "er wird hier übernachten."
Er wird hier übernachten, dachte die Rossa. Dann löste sich die übergroße Spannung. Sie sank auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände. Die Jungen in der Schenke traten neugierig näher.
"Wo ist der Fremde jetzt?", fragte die Rossa Luca, der das Gespräch bisher mit ihr allein geführt hatte.
"Er wird mit seinem Wagen ein Stück in die Berge gefahren sein", sagte Luca, "Es ist ja noch hell, aber er wird hierbleiben in der Schenke. Also muss er wohl wiederkommen."
Luca sah die Rossa nachdenklich an und wagte dann die Frage: "Was wollen Sie denn von dem Fremden?"
Und als die Rossa nicht antwortete, fügte, er entschuldigend hinzu, in der Hoffnung