Der Fremde und das Dorf; Die Gesichte der Blinden. Helmut H. Schulz
gut unsere Sprache."
"Vielen Dank", sagte die Rossa erleichtert. "Ich will ihn etwas fragen", fuhr sie fort, "ich will wissen, ob er ein bestimmter Mann ist. Ich werde hier auf ihn warten."
Sie setzte sich entschlossen zurecht, wie um das Unabänderliche ihres Entschlusses zu zeigen.
Cesare hatte beobachtend zugehört. Nun schaltete er sich ein: "Und wenn er ein bestimmter Mann ist, Frau Rossa, was dann?"
Das war die entscheidende Frage. Allen war klar, dass die Rossa durch ein alltägliches Ereignis wie das Erscheinen eines Touristen nicht so aus der Fassung geraten sein konnte. Was würde sie antworten?
"Dann, Cesare, wird er eine Zeit lang hierbleiben müssen. Er hat eine Bluttat verübt", antwortete sie bereitwillig.
Das hatte in der Luft gelegen. Wer noch gesessen, stand jetzt auf und drängte sich heran. Es wurde ganz still in der Schenke. Die Rossa saß auf dem Stuhl, dem Richterstuhl der Mütter, und sah unverwandt auf die Tür. Die Jungen blickten zu Boden.
"Bitte, Frau Rossa", brach Cesare das Schweigen, "was war das für eine Bluttat, von der Sie sprachen?"
"In meinem Dorf in den Albanerbergen", sagte sie, "hat eine Abteilung Soldaten zwölf Menschen, die ohne Schuld waren, erschossen. Der Fremde kommandierte die Soldaten."
Cesare nickte verstehend. Die Jungen gehörten einer späteren Generation an. Die Schrecken des Krieges kannten sie aber nicht nur aus den Erzählungen der Älteren.
"Er hat zwölf Menschen erschossen", sagte Cesare und sah von einem zum anderen, als wollte er ihnen diese Tatsache besonders einprägen.
"Er hat meinen Sohn erschossen", sagte die Rossa, "er würde jetzt einige Jahre älter sein als du, Cesare."
Jemand strich wie geistesabwesend über die Saiten einer Gitarre. Er unterließ es sofort, weil alle Blicke sich tadelnd auf ihn richteten.
Sie warteten mit der Rossa auf den Fremden, und mancher zerbrach sich den Kopf, was geschehen würde, wenn die Rossa in dem Fremden wirklich den Mörder ihres Dorfes erkannte.
Luca ging wieder hinter die Theke. Einige bestellten halblaut Wein, und Cesare setzte sich zu Maria Rossa an den Tisch. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der Gegenwart.
"Woran wollen Sie denn den Fremden erkennen?", fragte er.
"Er hat ein besonderes Merkmal", sagte sie. "An seiner rechten Hand fehlen zwei Finger. Die werden ihm wohl nicht wieder nachgewachsen sein."
"Das ist genug", sagte Cesare, "wir können jetzt nur noch auf ihn warten. Bring mir auch ein Viertel Wein, Luca."
Sie saßen wartend beisammen. Die Rossa schweigend, die Jungen leise redend. Manchmal wurde das Gespräch lauter. Einige gingen, die mit der Sache nichts zu tun haben wollten, neue kamen hinzu und wurden mit dem Ereignis bekannt gemacht. Bedauernde und respektvolle Blicke flogen an den Tisch der Rossa. Viele blieben aus Neugier. Man wusste ja nicht, wie sich die Sache entwickeln würde. Dann trat ein Mann ein, dessen Erscheinen eine jähe Ernüchterung bei den Pächtern bewirkte. Mit diesem Mann musste gerechnet werden.
Der Mafioso Carlo Ricci gehörte einer alten Familie an. Darauf war er stolz. Er nannte sich Gewerbetreibender, und soviel stimmte, dass er dunkles Gewerbe trieb. Die Alten des Dorfes erinnerten sich an den Vater Riccis, und noch Ältere an den Großvater. Sie alle hatten den Herren des Landes als Schergen gedient.
Vor einigen Jahren stand Carlo Ricci vor Gericht unter Anklage des Mordes an einem Bauerngewerkschafter. Der Prozess endete mit seinem Freispruch. Die Beweise genügten nicht, hieß es. Ausländische Korrespondenten schrieben darüber an ihre Zeitungen und in dem Zusammenhang über die Mafia, aber die Richter konnten die Mafia nicht finden. So war es am Ende ein einfaches Vergehen, aus der Tradition, aus der Vergangenheit zu erklären, Reste finsterer Blutrache, Täter nicht zu ermitteln. Die Leute wussten es besser.
Ricci kam wieder ins Dorf. In der Folge verschwand er noch oft von der Bildfläche und trat wieder in Erscheinung, wenn die jeweilige Sache aus der Welt geschafft war.
Er hatte Geld, trug Anzüge aus guten Wollstoffen und leuchtende Krawatten zu hellen Oberhemden.
Sein Gesicht mit den engen Lidspalten, der fahlen Hautfarbe und den energischen Wangenmuskeln, die ständig aufsprangen und erschlafften, als zermalmten die Kiefer dauernd einen Feind, prägte sich leicht ein. Die Brutalität dieses Mannes war offenbar, nur notdürftig verdeckt durch eine dünne Schicht Verbindlichkeit.
Ricci sah sich um in der Schenke und schüttelte verwundert den Kopf. Die Leute saßen still umher. Keiner spielte die eintönigen Volkslieder oder sang mit heiserem Bariton oder schrillem Diskant. Niemand war betrunken.
Er bemerkte mit Befremden die Rossa.
Etwas geht hier vor, dachte Ricci, aber was, zum Teufel? Warum sitzt die Rossa in der Schenke, Cesare neben sich, den Burschen, der die Farbe Rot zu sehr liebt, als dass er alt werden dürfte?
Zu fragen vertrug sich nicht mit seiner Würde. Die Leute mussten Respekt behalten, und das konnten sie nur, wenn der Mann, den sie fürchteten, allwissend und allgegenwärtig war wie Gottvater. Ricci bekreuzigte sich im Stillen für die Sünde. Die Mafia unterstützte die Politik der Christlichen Volkspartei. So hatte der Pfarrer einstweilen recht. Bei den Faschisten hatte sich das Gewicht schon einmal verschoben, gewiss, aber weshalb einem Gestern nachtrauern, zumal es sich im Heute wohl leben ließ?
Er lehnte sich über die Theke und blickte in die Augen Lucas. Luca war sein Freund nicht.
"Was ist mit euch los?", fragte Carlo Ricci barsch.
Er deckte die rechte Hand über den emporgestreckten Daumen der linken und hob sie schnell ab.
Luca wusste, was das bedeutete, antwortete aber nicht, denn vom Eingang der Schenke flog ein Ruf in den Raum, auf den alle gewartet hatten.
"Er kommt!"
Ricci blickte verständnislos zum Eingang, während Luca schnell hinter der Theke hervorkam. Ricci lauschte und vernahm zu seinem Erstaunen das Motorgeräusch eines Autos. Alle erhoben sich von den Plätzen, nur die Rossa blieb sitzen. Der Erwartete trat ein.
Die Nacht war hereingebrochen. Es kam kühl von den Bergen her. Der Schirokko, der den ganzen Tag lang heiß geweht hatte, schlief ein. Der Fremde fror. Unter dem Arm hielt er ein Bündel mit Sachen. Er wandte sich an Luca.
"Wo kann ich mich umziehen?", fragte er in reinem Italienisch.
Die Stille in der Schenke hätte ihm auffallen müssen, denn es ist selten still in den Schenken. Alle umstanden ihn, und er erriet, dass die Leute etwas wollten.
Zunächst dachte er, sie bestaunten ihn als Seltenheit als Mann mit einem Auto. Er kannte das von seinen Kreuz- und Querfahrten durch Sizilien.
Er sah sich um, blickte jeden einzeln an, ohne Angst und etwas spöttisch.
Da sagte Luca laut: "Ihm fehlen zwei Finger an der rechten Hand."
Sofort entstand ein Tumult. Alle redeten aufgeregt durcheinander.
Riccis Erstaunen wuchs. Dem Fremden zuckte die bezeichnete Hand, er zwang sie zur Ruhe. Ricci löste sich mit einem Ruck von der Theke und schob sich durch die Menge.
Maria Rossa ging durch den sich öffnenden Kreis der Jungen hindurch und blieb vor dem Fremden stehen.
"Er ist es", sagte sie langsam. Dann fügte sie heftig hinzu: "Sie haben im Sommer vierundvierzig in den Albanerbergen Geiseln erschossen. Sie haben meinen Sohn getötet."
Der Fremde sah sie an, Ricci pfiff leise durch die Zähne.
"Was sagen Sie", meinte der Fremde, "ich soll Geiseln erschossen haben? Ich bin nie in Italien gewesen. Es tut mir leid, dass Sie auf diese schreckliche Art Ihren Sohn verloren haben, aber ich bin, wie gesagt, nicht in Italien gewesen und komme demnach als Täter nicht in Betracht."
"Sie sind es gewesen", sagte die Rossa überzeugt.
"Das ist Unsinn", antwortete der Fremde