The Crow Chronicles. Kira Beauchamp
deine Farbe. Wenn du deine ganz passable äußere Erscheinung noch mit einem deines seltenen Lächelns schmücken könntest, wäre das natürlich ideal.” Ungerührt schwang sich mein Bruder auf den breiten Fenstersims, der in meinem Gemach gleichzeitig die einzige Sitzgelegenheit bot.
“Wäre das natürlich ideal…”, äffte ich ihn genervt nach. Am liebsten hätte ich eine Haarspange oder etwas Derartiges in seine Richtung gepfeffert.
“Was steht heute noch an?”, fragte er gelassen, ohne meine schlechte Laune zu beachten. Ich war in den Anblick meines Spiegelbildes versunken, nachdem ich mich auf meinen Schminkstuhl hatte fallen lassen. Man kann getrost behaupten, dass ich ein wenig danach versessen war, mein Gesicht zu betrachten und auf kleinere Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Erst fiel mir beim besten Willen nicht ein, was ich antworten sollte. Hatte dieser Junge eigentlich nichts Besseres zu tun, als hier auf meinem Fensterbrett zu sitzen und mich zu ärgern? Ich kam nicht mehr dazu, mir eine Antwort für Gray zu überlegen. Das laute Heulen von Sirenen riss mich aus meinen Gedanken. Ich schreckte auf und blickte mich um. Von meinem Schoßhündchen Corgy war weit und breit mal wieder nichts zu sehen. Ich hatte schon einmal einen Angriff ohne das kleine Fellknäuel überstehen müssen und wäre dabei vor Sorge umgekommen. Noch einmal wollte ich dies nicht durchstehen und so begann ich panisch nach dem Hund zu rufen.
“Jetzt weißt du, was heute noch ansteht”, schnauzte ich meinen Bruder an. Dieser erhob sich gelassen von seinem Platz und schwebte auf meine Zimmertür zu.
“Willst du mir nicht dabei helfen, Corgy zu finden?”, rief ich ihm erstaunt hinterher. Fassungslos blickte ich ihm nach, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Ich hatte gewusst, dass unser Verhältnis nicht das Beste war. Dass er mich aber ausgerechnet jetzt im Stich ließ, traf mich mehr, als ich jemals zugegeben hätte. Doch ich hatte keine Zeit zu verlieren. In wenigen Augenblicken wäre die Garde hier, um zu überprüfen, dass alle Räume evakuiert waren. Wenn ich Corgy bis dann nicht gefunden hatte, musste ich den Rest des Tages und vielleicht noch einen Teil der Nacht ohne ihn verbringen. Wer konnte sagen, wo er steckte und ob ihm nicht etwas zustieß?
Ich suchte zuerst im Badezimmer. Mein kleiner Hund liebte die flauschigen Teppiche und verbrachte sein Mittagsschläfchen gerne da. Doch heute war von ihm dort keine Spur zu sehen.
Sorgfältig prüfte ich die Balkontür - zu. Jede Nische in der Bibliothek, in der Corgy jemals gelegen hatte, nahm ich genauestens unter die Lupe. Nichts. Ich atmete immer schneller und konnte inzwischen mein eigenes Keuchen trotz der Sirenen hören.
“Corgy!”, schrie ich noch einmal unter Aufbietung meines gesamten Lungenvolumens, ohne auch nur einen Laut zur Antwort zu erhalten.
“Wo bist du?”, Ich lehnte kurz meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe und blickte in den Garten hinunter, während das Glas meine Stirn erfrischte. Überrascht beobachtete ich hektisches Treiben im Hof. So viele Menschen schienen der unmissverständlichen Aufforderung der Sirenen nicht zu folgen. Bisher war es jedes Mal so gewesen, dass das gesamte Schloss wie ausgestorben da lag, wenn ein Angriff stattfand. Irgendetwas schien heute anders zu sein, doch noch bevor ich mir darüber nähere Gedanken machen konnte, hörte ich schwere Schritte näher kommen. Dies musste die Palastwache sein, die kam um zu kontrollieren, dass niemand mehr in seinen Gemächern war. Ich blickte mich hektisch noch einmal um, riss die schweren Vorhänge hin und her, doch von Corgy keine Spur. Seufzend ging ich zur Tür, um der Wache entgegenzutreten. Als ich die Hand auf die Türklinke legte, fühlte sie sich eiskalt an. Ich zuckte zurück, doch dann erinnerte ich mich an meine Mutter, die stets betont hatte, wie wichtig es in jeder Situation war, Haltung zu bewahren und seine Gefühle nicht zu offenbaren. Als ich die Tür schließlich beherzt öffnete, wehte ein eiskalter Lufthauch in mein Gemach und machte meine Vorsätze auf der Stelle zunichte. Es schien als würde eine eiserne Faust mein Herz umschließen und langsam zudrücken.
Ich wollte gerade in den Flur treten, um zu verhindern, dass die Wache wie beim letzten Mal mit ihren schmutzigen Schuhen in mein Zimmer trampelten und alles verschmutzten. Da wurde die Tür aus meiner Hand gerissen, das Poltern der Schritte kam näher und plötzlich ging alles ganz schnell. Ich spürte einen schmerzhaften Druck an beiden Oberarmen und verlor den Boden unter den Füssen. Schon wurde ich mit dem Kopf unsanft gegen den Türrahmen gestoßen, ohne dass ich sehen konnte, wer so grob mit mir umsprang. Allerdings hatte diese grobe Behandlung den Vorteil, dass alle Furcht von mir abfiel. Mit unkoordinierten Stümpern kannte ich mich aus. Wenn das die Palastwache war, dann würde die Hälfte von ihnen ihre Stelle verlieren, sobald dieser Angriff durchgestanden war. Dafür würde ich höchstpersönlich sorgen und ich wusste jetzt schon, dass man meinen Wünschen entsprechen würde, wenn ich erst die Abdrücke an meinen Oberarmen präsentierte.
“He, Sie da! Lassen Sie mich sofort herunter! Dies wird ernsthafte Konsequenzen haben”, schrie ich erbost und versuchte, meine Arme aus den eisernen Griffen zu winden. Erfolglos. Es schien, als ob die Finger um meine Oberarme versteinert wären. Versteinert? Im selben Moment, als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, schrie ich los. Ich zappelte noch wilder, ungeachtet der Schmerzen, die ich mir selber an den Armen zufügte. Langsam aber sicher war die Blutzufuhr in meinen Fingern soweit unterbrochen, dass sie nur noch kribbelnde Stummel waren, die sich verdächtig nach abgestorbenen Gliedern anfühlten.
Wie hatte das bloß geschehen können? Die beiden riesigen Muskelpakete, zwischen denen ich wie ein leerer Kartoffelsack baumelte waren nämlich keine Mitglieder der Palastwache, wie zuerst angenommen. Es waren zwei riesige Gargoyles mit ebenso großen steinernen Händen, denen ich niemals entkommen würde. Bisher hatten sie mich komplett ignoriert und nicht ein Wort gesprochen. Wenn ich auch nur die leiseste Chance auf Rettung haben wollte, dann sollte ich mich beeilen. Sehr fest beeilen sogar.
“Ich bin nicht angezogen um den Palast zu verlassen”, schimpfte ich, um sie abzulenken und Zeit zu schinden. Nichts. Keine Antwort, kein Zucken der steinharten Muskeln. Nicht ein Anzeichen dafür, dass sie mich überhaupt verstanden.
“Lassen Sie mich runter!” Ich tobte und schwitzte nun ziemlich heftig, doch während sie stoisch weiter dem Haupteingang des Palastes entgegen schritten, ermüdete ich langsam, ohne ein Resultat zu erzielen.
“Hilfe! So hilf mir doch jemand!”, schrie ich schließlich, während der eine Gargoyle bereits die Flügeltür mit dem Arm auf schob. Der andere legte seine riesige Hand über meinen Kopf und erst als wir bereits auf der breiten Treppe standen, fiel mir auf, dass er meinen Kopf vor neuerlichem Anschlagen geschützt hatte. Wow, wie freundlich von ihm. Ich konnte mir nicht erklären, warum er so etwas tun sollte, schließlich waren wir Krähen und die Gargoyles schon seit Jahrhunderten verfeindet, und führten schon über ein Jahrzehnt lang gegeneinander Krieg. Mal abgesehen davon, dass diese ungehobelten Kerle ja bereits zuvor meinen Kopf an den Türrahmen gedonnert hatten.
“Diese Kreaturen sind gewissenlos und töten, was immer ihnen in den Weg kommt”, hatte mein Onkel Jeb so oft gepredigt, dass ich die Möglichkeit, der Gargoyle hätte vielleicht von diesem Vorfall zuvor ein schlechtes Gewissen, von vornherein wieder ausschloss. Mit Sicherheit hatte ich mir die Geste soeben einfach nur eingebildet. Ich fröstelte in der kühlen Luft vor dem Palast und bemerkte, wie dünn mein Hauskleid eigentlich war. Am Morgen war es mir sinnvoll erschienen, ein leichtes Baumwollkleid zu wählen, um es bei der Kleideranprobe rasch wechseln zu können. Doch hier war es mit der Fürsorge der Gargoyles auch bereits vorbei. Sie warfen mich im Hof auf einen Wagen und eine dicke, stinkende Decke über mich. Leider prallte ich genau mit der dicken Beule von zuvor auf dem Holzboden des Wagens auf und diesmal sah ich nicht nur Sternchen, sondern mir wurde komplett schwarz vor den Augen.
GAYLE
Baeye und ich waren seit unserer Geburt unzertrennlich. Unsere Onkel und Tanten hatten stets die Geschichte von unserem ersten Tag auf Erden erzählt und auch wenn sie diese wohl mit jedem Mal ein wenig mehr dramatisiert hatten, waren mein Zwillingsbruder und ich stets willige Zuhörer gewesen. Angeblich waren unsere Nabelschnüre ineinander verheddert gewesen und nur dank der Tatsache, dass Baeye und ich im Abstand von zwei Minuten aus unserer Mutter rausgeschossen waren, hatten wir die Geburt überhaupt überlebt. Ich habe keine Ahnung ob dies stimmt, aber