Der Springer. Helmut H. Schulz
die Straßen, blieben vor verschlossenen Läden stehen, trafen sich, erkannten sich, schüttelten Hände, gingen in Kneipen, tranken Bier und Schnaps, schrien auf Sportplätzen, studierten Wettergebnisse, notierten enttäuscht die Zahlen der Lotterie, wieder nichts, na ja. Abends stellten sie Radios und Fernseher an, legten Schallplatten auf, umarmten Frauen, lasen, rauchten, stritten sich mit anderen Gnievottas herum.
Wie lange geht das?
Am Spätnachmittag verschwand die Sonne ganz. Sturm hauste in den Straßenbäumen, warf abgestorbene Äste herunter, trieb Staub vor sich her. Die Straßen leerten sich und das Wetter brach los. Ein Platzregen überschwemmte die Stadt. Der junge Bodo saß rauchend in einem überfüllten Café und genoss die Frische, die durch das offene Fenster drang.
Am Vormittag wehte noch leichter Wind, den milchigen Himmel vermochte die Sonne nicht mehr zu durchstoßen. Über dem Waldstreifen wurde der Grauschleier so dicht, dass die Bäume wie in blaue Watte gepackt schienen. Gegen Mittag schlief das bisschen Wind ganz ein, drückende Schwüle lastete auf dem Feld. Jeder Schritt scheuchte Wolken beißlustiger Insekten auf; böse graue oder bunte dreieckige Fliegen bohrten ihre gierigen Rüssel in erhitztes Fleisch, ließen sich durch keine Handbewegung vertreiben.
Von Stunde zu Stunde sank das Barometer, ohne dass sich der Himmel veränderte. Schlaff und bestaubt hing das Laub an den Ästen der Bäume. Die Zitterpappeln an der Straße zum Feld ließen die silbrigen Unterseiten ihrer Blätter sehen, sie vibrierten nur noch leicht. Das Feld, die ganze Natur erwartete das Unwetter.
Etwas abseits vom Bohrfeld standen Rinder, eine kleine Herde auf verbrannter Weide. Gras fanden sie nur noch an tiefer liegenden feuchten Stellen oder unter den Bäumen, in deren Schatten der Boden nicht so ausgedörrt war. Unruhig liefen die Tiere hin und her, legten sich für einen kurzen Augenblick, um, gepeinigt von den großen Bremsen, wieder aufzuspringen, sich anzustoßen und erneut herumzuwandern. Von Hals und Nacken rieselte Blut über das Fell. Ihr Gebrüll hielt seit dem frühen Morgen dieses Sonntags an.
Am Turm war die Schwüle noch größer, hier strahlten heiß gelaufene Maschinen Wärme ab. Kerzengerade, reglos standen Melde, Disteln und harte Gräser auf einem Boden, der wie gewachst glänzte. Alle paar Augenblicke ging einer der Leute unter den Wasserschlauch, spülte Dreck und Schweiß herunter. Lange hielt die Abkühlung nicht vor. Kasch befand sich auf der Aushängebühne, auch Laski und Gnievotta arbeiteten mit. Das heraufziehende Wetter fiel ausgerechnet in eine Arbeitsphase, bei der es um Minuten ging. Kasch trug eine leichte Jacke aus Schilfleinen, als Einziger behielt er die Sachen an, unter der Schwüle schien er nicht zu leiden. Auf seinem Gesicht zeigte sich kein Schweiß, obgleich er sich ebenso wenig schonte wie die anderen. Ein stechender Geruch erschwerte das Atmen; bei der Wärme und Trockenheit begann das Dieselöl zu gasen.
Eine violett schimmernde Wand zog überm Wald auf, ihr folgten schwarze Wolkenberge, streiften beinahe die Baumwipfel. Schwefelgelb leuchtete der Rand des Wolkengeschiebes. Allmählich schloss sich der Himmel um einen gläsernen Fleck. Ein blaugraues schweres Dämmerlicht veränderte alle Farben. Strohblond erschienen die Haare Kaschs, aus dem dunklen Umbra seines Gesichtes schoben sich millimeterlange weiße Bartspitzen, seine untere Gesichtshälfte wirkte wie bereift.
Sie legten eine Pause ein, stellten sich in ein großes Zelt, in dem Zement lagerte. Kasch rauchte jetzt nicht. Bei Gelegenheiten, die ihn stark in Anspruch nahmen, vergaß er seinen Zigarillo. Laski suchte in den Ecken herum, fand einige Brauseflaschen, öffnete sie und reichte sie weiter; das Getränk schäumte lauwarm aus den Flaschenhälsen.
«Schmeckt wie Pisse», sagte Gnievotta.
«Tee ist nicht mehr», sagte Laski. Die großen Thermophoren, die Gnievotta morgens und abends mit Tee gefüllt aufs Feld schaffen ließ, enthielten keinen Tropfen mehr.
«Wasser ist jetzt überhaupt besser», sagte Gresbeck, einer der Leute.
«Warte die Zeit ab», sagte Kosch, «werden bald genug Wasser haben.» Er kaute Sauerampfer, hin und wieder schob er eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund. Er hatte stets welche in der Tasche, gingen sie ihm aus und konnte er sich keine beschaffen, behalf er sich mit Mandeln oder Erdnüssen. Zu den Mahlzeiten aß er weniger als die anderen.
Sie traten heraus, spürten aber keinen Wind, nur die Luftfeuchtigkeit hatte anscheinend zugenommen, denn das Feld verschleierte sich merklich. Selbst den Turm, der dicht bei ihnen stand, nahmen sie wie durch Milchglas wahr.
Es wäre die unwiderruflich letzte Bohrung gewesen, die ihn gesehen habe, sagte Laski und wischte sich ein paar Stechfliegen vom Nacken. Seine Handfläche zeigte hellrote Tropfen. Unbegreiflich, aber Laski wurde von allen beißenden Insekten bevorzugt.
Das deute auf gutes Blut hin, sagte Kosch, Laski möge es dankbar als ein Zeichen großer Gesundheit nehmen.
«Quatsch dich ruhig aus», sagte Laski,
«Lass gut sein», sagte Kosch.
Sie rätselten darüber, wie lange das Unwetter noch auf sich warten lassen würde. Laski vermutete, es könne noch Stunden dauern. Kosch stellte die Maschinen ab. Auf dieses Zeichen hin begannen sie festzumachen, was der Sturm wegtragen konnte, und lockerten Zeltleinen.
Noch während sie mit dieser Arbeit beschäftigt waren, überfiel sie unerwartet heftig die erste Bö, straffte Leinen und Ketten, zerrte an den Ankern. Stahl schlug mit hellem Glockenton zusammen, Bolzen und Werkzeug wurden von der Bühne gefegt. Unter der Wucht des ersten Anpralls bog sich die Pappelreihe, grellweiß flammte der Himmel auf. Donner hörten sie nicht. Obwohl Böen über das Feld rasten, Bäume entwurzelten, Masten knickten, setzte ihnen die Schwüle unverändert zu. Auch das Barometer wollte nicht zur Ruhe kommen, es fiel weiter.
«Warum regnet es denn nicht, verflucht noch mal», sagte Laski.
Niemand antwortete, obgleich sie alle dasselbe dachten. Diese brutale Sonne an den Vortagen, diese idiotische Schwüle jetzt machten sie krank, reizbar, nervös. Das Zelt schwankte unter dem Druck des Sturmes. Noch hielten die gelockerten Leinen; wenn der Wind zunahm, würden sie wahrscheinlich nachgeben, und das große Zelt würde wie ein Haufen Lumpen davon getragen werden.
Die Rinderherde stand jetzt dicht beisammen; stoisch, ohne sich zu rühren, erwarteten die Tiere das Unwetter, senkten ergeben die schweren Köpfe.
«Denen wird die Milch sauer», sagte Kasch.
«Milch», sagte Laski, «pfui Deibel.»
Auf dem Bohrplatz herrschte schon ein großes Durcheinander, wie Gnievotta feststellte. Nur mit Mühe blieben die Leute auf den Beinen, und dann brach es los. Es war, als würde der Himmel in zwei Hälften gerissen. Halb geblendet, sah Gnievotta eine schäumende Wand auf sich zukommen. Er flüchtete ins Zelt. Im Handumdrehen verwandelte sich das Feld in einen kochenden See. Derart dicht fiel der Regen, dass sie die Umrisse des Turmes überhaupt nicht mehr sahen. So langsam das Wetter gekommen war, so rasch zog es weiter. Die Leute wateten barfüßig und lachend durch knietiefe Pfützen. Das Ganze hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert. Weit und klar öffnete sich der Himmel, leichter Wind bewegte die Bäume, die vor Nässe tropften. Die Abendsonne verlieh dem überfluteten Feld einen hellen weichen Glanz.
Gnievotta versuchte den Jeep in Gang zu bringen. Der abgesoffene Motor gab keinen Mucks von sich. Sie gingen ins Lager, frische Zigaretten wurden angesteckt, Helme in der Hand getragen. Auf dem Feld war so lange nichts auszurichten, wie das Wasser nicht abgelaufen war. Durch die Lachen trotteten behaglich brummend die Rinder heran, den kürzesten Weg nach Hause nehmend. Ihre frisch gespülten, reinen Felle dampften, eine Dunstwolke stand über der kleinen Herde.
Im Lager gab es kein Licht. Laski ging mit einem Trupp los, um die Freileitungen zu kontrollieren und den Schaden, wenn möglich, sofort zu beheben. Das war Laskis Sache. Gnievotta wollte telefonieren, aber der Apparat summte nur, kein Rufzeichen kam. Entweder schwammen die Leitungen im Wasser, oder sie waren vom Sturm zerrissen. Kasch kramte einen alten Spiritusbrenner hervor und stellte den Kaffeekessel auf.
Die Seen verliefen sich schneller als gedacht. Gnievotta wollte aufs Feld. Kasch sagte, es habe keinen Zweck, jetzt rauszufahren. Ohne Licht würden sie nichts machen können. Besser, Gnievotta