Der Jakobsweg am Meer. Michael Sohmen
Man kann mit dem Boot auf einem Wasserlauf rund um den Hügel fahren, etwas weiter sind Fahrgeschäfte und Stände aufgebaut. Bevor wir uns dem leiblichen Wohl widmen, führt Javi mich auf eine Terrasse.
»Es ist der schönste aller Jakobswege. Auf den folgenden 800 Kilometern wirst du das Meer stets auf deiner rechten Seite sehen.« Er weist zum bewaldeten Gebirge. Dunkles Grün, so weit das Auge reicht. In der Tiefe hört man die Brandung gegen die Felsen hämmern und sieht Wellen, die sich in weißer Gischt aufbäumen. Vom diesem Hügel hat man eine wunderbare Fernsicht.
Nach dem sagenhaften Blick auf die kommende Etappe gehen wir weiter. Javi zeigt zur Altstadt und weist eine Anhöhe hinauf. Dort thront ein mächtiges Gebäude mit zwei Türmen.
»Dies war früher der Bischofssitz. Es ist mit Abstand das größte Gebäude und wird heute als Schule genutzt«, erzählt er und zeigt weiter in die Ferne, zum Ende der Stadt. »Dort befindet sich die teuerste Privatwohnung von ganz Spanien. Die ist nichts Besonderes, doch San Sebastian ist die begehrteste Stadt unter den Spaniern. Sogar der einstige Diktator General Franco hatte hier seine Sommerresidenz errichtet.«
»Wie wäre es mit Bier?«, frage ich ihn. Ich hatte genügend über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt erfahren, mittlerweile setzt die Dämmerung ein.
»Okay«, antwortet er und wir begeben uns zu einer der Jahrmarkt-Buden. »Ich gebe die erste Runde aus, du die zweite.«
Er reicht mir einen Plastikbecher mit Bier, bis zum Rand gefüllt und frei von Schaum. So, wie es sich auf dem Jakobsweg gehört. »Wie war die erste Etappe?«
»Derzeit sind unglaublich viele Pilger unterwegs«, antworte ich. Zum Glück kann ich mich mit Javi fließend in Englisch verständigen.
»Das wundert mich nicht. Im Juli und August sind viele auf dem Camino del Norte unterwegs, die eigentlich gar keine Pilger sind. Viele wandern nicht und sitzen nur am Strand.«
Während ich wie verabredet das zweite Bier besorge, entschuldigt er sich, dass er nicht viel über den Küstenweg sagen könnte, da er ihn noch nicht unternommen hätte. Derweil meldet sich mein Hunger, da ich ohne Frühstück gestartet bin und mich auf dem Weg nur mit einer Tortilla gestärkt hatte. Wir verlassen den Hügel, schlendern durch die Innenstadt und sehen uns nach Restaurants um. Meine Hoffnung, jenes auf dem Jakobsweg beliebte Pilgermenü für 10 Euro auf einer Speisekarte zu entdecken, erfüllt sich nicht. Selbst die preisgünstige Alternative namens Plato combinado wäre mir recht, doch auch die gibt es nirgends. Stattdessen wird Essen zu Preisen ab 18 Euro aufwärts angeboten und zwar ein Getränk. Wir klappern das neunte Restaurant ab und können uns für kein Angebot entscheiden. Zudem hatte uns keine der Lokalitäten wirklich angesprochen, da wir an diesem lauwarmen Abend gerne draußen sitzen würden.
»Ein preisgünstiges Lokal kenne ich leider auch nicht. Im Baskenland ist alles viel teurer als in anderen spanischen Regionen«, klärt er mich auf.
Als wir um die Ecke biegen, entdecken wir ein Restaurant. Es hat eine Glasfassade und davor eine Terrasse, auf der ein Tisch unbesetzt ist. Es ist die einzige Gelegenheit, bei der wir draußen sitzen können. Es wird ein Menü beworben, das mit Aufpreis auf der Terraza 20 Euro kosten würde. Mittlerweile ist mir klar, dass eine Suche nach etwas Preisgünstigerem in dieser Stadt eine Illusion ist.
»Wie wäre es hier?«, fragt er und ich nicke kurzentschlossen.
»Es gibt für Donostia typische Spezialitäten«, sagt er nach einem Blick auf die Karte und übersetzt die Auswahlmöglichkeiten, da ich daraus nicht schlau werde. Wir entscheiden uns für Gemüselasagne als Vorspeise. Als Hauptgericht wählt er Gambas und als Dessert Eiscreme, ich entscheide mich für Lamm und Flan als Nachspeise. Wenn ich Glück habe, ist es nicht der Fertigpudding, sondern die besonders leckere Spezialität Crema Catalana.
Nachdem Javi die Bestellung aufgegeben hat, bin ich neugierig, was es mit der Bezeichnung Donostia auf sich hat. Den Namen hatte ich häufiger gelesen, dessen Bedeutung hatte sich mir bisher noch nicht erschlossen.
»Donostia ist der baskische Name von San Sebastian.«
»Aha.« So einfach. Ich frage ihn: »Kannst du baskisch?«
»Ein wenig. Nachdem ich mit meinen Eltern ins Baskenland umgezogen war, hatte ich an der Schule begonnen, die Sprache zu lernen. Es gibt fast niemanden, der damit als Muttersprache aufgewachsen ist. Denn zur Zeit der Franco-Diktatur war baskisch streng verboten und auch die anderen regionalen Sprachen wurden unterdrückt. Die Hochsprache Castellano sollte zum Standard werden. Nach dem Ende der Diktatur wurde das Verbot jedoch aufgehoben und man begann, die Vielfalt der Sprachen wiederzubeleben.«
Während wir plaudern, werden die Speisen serviert. Diese sind sehr übersichtlich. Mein Teller mit Lasagne ist nach drei Löffeln leer. Meine Lamm-Spezialität stellt wenig mehr dar als drei Knochen zum Abnagen. Dennoch schmecken die Gerichte lecker, besser als gar nichts, zudem haben wir eine Flasche Wein inklusive. Wir unterhalten uns über Urlaubspläne. Für Javi wäre es wegen seiner Projektarbeit unmöglich, Urlaub zu nehmen. Genauso wenig könnte er mehrere Wochen auf dem Küstenweg wandern. Dafür hat er geplant, nächstes Jahr die ungarische Pilgerin in ihrer Heimatstadt Budapest zu besuchen. Auf dem portugiesischen Jakobsweg hatte sich Agnes unserer Gruppe angeschlossen und unterwegs hatten die beiden zusammengefunden.
Javi will mir noch etwas Besonderes zeigen. Ein Kunstwerk, das beim abendlichen Wellengang seine Wirkung entfaltet. Wir gehen über den leeren Sandstrand wieder in Richtung Monte Igueldo. Am Fuß des Hügels nimmt die Uferpromenade eine Abzweigung zum Meer und endet dort an einer Aussichtsplattform, auf der sich einige Kinder amüsieren. Ein Mädchen steht dort, ein Zischen ist zu hören, der Rock wird hochgewirbelt und Haare fliegen in die Höhe. Eine Sekunde dauert der Spuk und die Kinder fallen in wildes Gelächter.
»Das hat sich ein Künstler ausgedacht. Unter der Plattform befindet sich ein Hohlraum, der mit dem Meer verbunden ist«, erklärt Javi das Phänomen. »Die Wellen füllen den Raum und verdrängen die Luft, die nach oben geführt wird.«
Das muss ich auch ausprobieren. Ich stelle mich auf eine der Öffnungen am Boden und warte. Ich höre, wie das Wasser donnernd gegen die Felsen kracht und einen Augenblick später fühle ich den Luftzug und Meerwasser. Es macht riesigen Spaß, auch wenn man nass wird. Wir amüsieren uns wie Kinder. Mit der Zeit wird es jedoch kalt und wir begeben uns zurück zum Strand. Eine Strandbar ist geöffnet und mit dem letzten Bier des Tages stoßen wir auf den Camino an.
»Hast du andere vom Camino Francés wiedergetroffen?«, fragt er.
»Paolo war vor zwei Monaten zu Besuch in Heidelberg, wir haben das Schloss besichtigt«, antworte ich. Der witzige Italiener war mit Javi auf dem Camino Francés unterwegs. Auf den Schlussetappen hatte ich die beiden kennengelernt.
»Er war vergangenen Herbst beim baskischen Rockfestival mit dabei«, erzählt Javi. »Drei Tage zelten, saufen und Hardrock-Musik.«
Ich bewundere Paolo. Ständig reist er durch die Welt und ist überall mit von der Partie, wo es etwas zu Feiern gibt.
Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich zur Unterkunft zurückkehren muss. Die Pforten der Herberge schließen um 1 Uhr, die Zeit ist knapp geworden. Javi bringt mich mit dem Auto zur Unterkunft. Aus dem Zustand seines Fahrzeuges schließe ich, dass er als freiberuflicher Programmierer kein Vermögen verdient. Sein alter VW-Passat ist ein Bastler-Fahrzeug. Die Hinterbank fehlt und beim Einsteigen muss man die Autotür festhalten, damit sie nicht herausfällt.
Pilgeransturm
3. August, San Sebastian → Getaria
Die Etappe beginnt mit einem steilen Aufstieg. Nachdem ich die Stadt hinter mir gelassen habe, befinde ich mich in einer Naturidylle und dem absoluten Kontrast zur pulsierenden Stadt San Sebastian. Ich sehe Kühe, die genüsslich auf saftigen Wiesen mampfen oder faul in der Sonne liegen. Von meiner Gegenwart lassen sich die mächtigen Tiere nicht stören. Wie Javi versprochen hatte, liegt der Ozean tiefblau zu meiner rechten Seite. Diese grüne, hügelige Landschaft mit vielen Gehöften hat eine Ähnlichkeit mit dem Allgäu.
Parallel zum Camino