Die Midgard-Saga - Jötunheim. Alexandra Bauer
einverstanden. „Deine verlorenen Erfahrungspunkte wieder gut machen?“
„Das wäre schön“, erwiderte Thea.
Tom parkte auf dem Seitenstreifen und stellte den Motor ab. „Dann los!“
Erfreut quiekend riss Thea die Autotür auf und eilte voraus. Sie ließ die Eingangstür für Tom geöffnet und nahm zwei Treppen auf einmal in ihr Zimmer. Im Vorbeigehen schaltete sie erst Toms Laptop an und fuhr dann ihren eigenen Computer hoch. Als Tom das Zimmer betrat, begrüßte ihn bereits der Startbildschirm. Mit einem amüsierten Kopfschütteln warf er seine Jacke aufs Bett und setzte sich an seinen Platz. Rasch hatten sich die beiden in das Spiel eingeloggt. Von feindlichen Spielern weit genug entfernt, fanden sie Monster zum Jagen. Die Zeit flog dahin, während die Erfahrungspunkte langsam zurück auf Theas Spielerkonto krochen. Sie hatten schon beinahe alle verlorenen Punkte des Vormittags zurück erkämpft, als lange Zeit später Theas Mutter den Kopf durch die Tür steckte, eine blonde Frau, mit lachenden blauen Augen. Ihre Erscheinung erinnerte Thea oft an einen Engel. Häufig fragte Thea sich, wer ihr den roten Haarschopf vererbt hatte, denn sie war die einzige in ihrer Familie mit rotem Haar. Weder Mats, ihr kleiner Bruder, noch ihr Vater konnten mit dieser Farbe aufwarten.
„Ihr seht noch genauso aus, wie ich euch heute Morgen verlassen habe. Habt ihr auch irgendwann eine Pause gemacht?“, begrüßte Frau Helmken die beiden.
Thea wandte den Blick vom Bildschirm und äugte über die Lehne ihres Stuhls. „Ja. Wir waren im Einkaufszentrum Kaffee trinken und haben noch eine Pizza gegessen.“
Ihre Mutter trat nun ganz ein. „Oh wie schade. Da muss ich wohl alleine zu Abend essen.“
„Du hast Papa und Mats also erfolgreich am Bahnhof abgesetzt?“, scherzte Thea.
Frau Helmken lachte. „Absolut! Fast hätten sie noch den Zug verpasst, weil Mats seinen Teddybären verloren hat. Wir fanden ihn im Auto. Das war eine Aufregung! Aber es ist geschafft, Mission abgeschlossen! Für die nächsten zwei Wochen haben wir einen männerfreien Haushalt.“ Sie sah zu Tom und entschuldigte sich lachend. „Beinahe, jedenfalls.“
„Ihr Mann ist weg?“, staunte Tom.
„Er ist mit Mats zu seinen Eltern. In zwei Wochen, wenn ich Urlaub habe, fahren Thea und ich nach. Hat sie das nicht erzählt?“
„Doch. Aber ich dachte, sie fahren alle zusammen“, erwiderte Tom. Er sah zurück auf den Bildschirm und klickte ein angreifendes Monster an. Tribun führte ein paar gekonnte Schläge aus.
„Nein. Ich hatte keinen Urlaub bekommen“, erklärte Frau Helmken. Sie winkte ab. „Ich werde mir mal was zu essen machen. Was ist mit euch?“
„Danke, Mama. Wir sind satt.“ Thea richtete ihren Blick zurück auf den Bildschirm, weil Tom ihren Namen nannte. Rasch führte sie einen Heilzauber über seiner Figur aus und betäubte ein Monster mit Schlafzauber.
„Spielt nicht wieder so lange! Ihr werdet sonst noch dämlich von diesem Zeugs“, scherzte ihre Mutter.
„Das sagst du immer, Mama!“
Frau Helmken lachte. „Das kann man euch nicht oft genug sagen“, versetzte sie im Gehen und zog die Tür hinter sich zu.
„Wie schafft man es, so eine Mutter zu bekommen?“, fragte Tom, während er gebannt auf den Bildschirm starrte und seiner Figur neue Befehle erteilte.
„Zwei Leben als rechtschaffener Mensch gelebt, vermutlich“, erwiderte Thea.
Tom lachte abwehrend, doch er konnte nicht ahnen, wie ernst es Thea damit war.
Ihre Anwesenheit in der Spielwelt rief die „Eternal Dragons“ auf den Plan. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatten, die Master-Quest in den nächsten Tagen zu meiden, drängelten einige ihrer Gildenmitglieder so lange, bis sich Tom und Thea dazu bereit erklärten, eine Gruppe zur Drachenstatue zu begleiten. Thea, schon völlig übermüdet, heilte die Gruppe gut, doch wie am Vormittag lauerten ihnen feindliche Spieler auf und nahmen die Gilde in die Zange, während diese noch mit dem Endboss kämpfte. Viele Gildenmitglieder brachen augenblicklich auf, um zu helfen, aber für Thea war es abermals zu spät. Als drei Gegner sie gleichzeitig angriffen, nahm ihr Lebensbalken so rasch ab, dass sie nur noch verzweifelt um Hilfe rufen konnte. Wie so oft warf Malefiz aber den Heilzauber nicht schnell genug. Ihre Figur fiel und mit Fengurds Tod verlor Thea die gesamte Erfahrung, die sie nach ihrer letzten Pleite zurückgewonnen hatte.
Verärgert warf sie sich in ihren Stuhl zurück. „Heut ist nicht mein Tag!“, knirschte sie.
„Tut mir leid. Malefiz ist wirklich eine Niete!“, erwiderte Tom.
Thea spähte über Toms Rücken und verfolgte den Kampf auf seinem Laptop, da ihre Spielfigur fern des Geschehens zu neuem Leben erwacht war.
Thea! Völlig unerwartet nahm sie eine Stimme in ihrem Geist wahr. Es war eine vertraute Stimme und doch zuckte Thea zusammen. Ihre Hand griff unwillkürlich zu dem Amulett an ihrem Hals. Der runde Anhänger mit dem Knotenmuster und den drei ineinandergreifenden Monden war ungewöhnlich heiß. Mit gerunzelter Stirn sah sie sich nach Tom um. Noch immer starrte dieser auf seinen Bildschirm, klickte die Maus und verfolgte das Spiel. Er schien nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Thea nahm das Headset vom Kopf, um die Gilde aus ihrem Ohr zu bekommen. Konzentriert lauschte sie in die Stille hinein, aber nur das Klicken von Toms Maus und hier und da ein paar von ihm ausgestoßene Flüche waren zu hören.
„Ich gehe mir etwas zu trinken holen“, erklärte sie.
„Mach das. Hier kannst du gerade nicht helfen“, bestätigte Tom.
„Keinen Finger werde ich mehr für Malefiz krümmen“, prophezeite Thea verstimmt. Dabei spielte sie nachdenklich mit dem Amulett und betrachtete es. Hatte ihre Einbildung ihr einen Streich gespielt? Schon stand sie auf, packte in der Bewegung die Schwerttasche und warf sie sich über den Rücken.
„Wohin willst du denn jetzt damit?“, fragte Tom verblüfft.
„Nur was nachsehen“, antwortete Thea abwehrend.
Tom runzelte die Stirn, beließ es aber bei dieser Geste und kümmerte sich wieder um das Spiel.
Thea bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick und nahm die Treppe nach unten. Sie erwischte sich dabei, dass sie noch immer nachdenklich an dem Amulett fingerte.
Erst als sie sich in sicherer Entfernung befand, wagte sie es, in Gedanken den Namen der nordischen Göttin zu rufen. Wal-Freya? Wehmütig dachte sie an die oberste der Walküren zurück, die ihr das Amulett nach ihrem gemeinsamen Abenteuer überlassen hatte. In Niflheim hatte sie es Thea anvertraut und ihr gesagt, dass sie damit stets in Verbindung stehen würden. Es war ein Teil von Wal-Freyas magischer Halskette Brisingamen und mit Magie belegt. Seit sie zurück in Midgard war, hatte Thea keinen Kontakt mehr mit der Liebesgöttin und obersten der Walküren gehabt, zumindest glaubte sie das.
„Wal-Freya?“, rief sie abermals, aber sie vernahm keine Antwort. Möglicherweise hatte sich Thea geirrt und ihr Wunsch nach einer Botschaft hatte ihr einen Streich gespielt.
In der Küche angekommen, öffnete sie den Kühlschrank. Sie schenkte sich gerade ein Glas Orangensaft ein, da klopfte es an die Haustür. Stirnrunzelnd sah Thea auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht! Sie stellte das Glas ab, ging zur Tür und öffnete diese ein Stück. Sofort befand sich eine Hand im Spalt, welche die Tür gegen Theas Willen aufdrückte. Überrumpelt stolperte Thea zurück. Atemlos beobachtete sie, wie eine Person an ihr vorbei eilte. Dunkle Haare wehten lang um ihre Schultern, eine weiße Strähne zog sich entlang der Stirn und steckte mit einem Teil des restlichen schwarzen Haares hinter dem linken Ohr. Ein schwerer Umhang wehte um ihre Stiefel, mit denen die Person geradewegs ins Wohnzimmer schritt. Sofort kehrte sie zurück, spähte in die Küche und öffnete die Tür des Gästeklos, um auch dort einen Blick hineinzuwerfen. Erst dann trat die Frau auf Thea zu und nahm sie zur Begrüßung in den Arm.
„Thea! Wie geht es dir?“
„Wal-Freya“,