Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning
war jedoch nicht weit gekommen. Schon bevor er den Parc Montsouris erreicht hatte, hatte er aufgrund eines stechenden Schmerzes in der linken Wade aufgeben müssen.
»Muskelzerrung«, diagnostizierte Doktor Lionel Frey. »Nichts Gravierendes. Ein paar Tage keinen Sport und dann langsam wieder anfangen. In deinem Alter sollte man da vorsichtig sein.«
»Danke, sehr umsichtig, mich an mein Alter zu erinnern«, antworte Jean-Baptiste. »Und was kann ich tun, damit es recht schnell wieder gut wird? Ich hab’ mir am Wochenende neue Laufschuhe geleistet, so lila Asics. Ich kann die jetzt unmöglich drei Wochen lang in den Schrank stellen und nicht mehr anrühren.«
»Nun, PECH, würde ich sagen«, antwortete der Arzt, der über die Jahre zu einem von Jean-Baptistes besten Freunden geworden war, trocken.
»Danke, Herr Doktor«, sagte Jean-Baptiste ironisch, »ich weiß Ihr Mitgefühl wirklich zu schätzen. Aber hätten Sie vielleicht einen Ratschlag, wie ich möglichst schnell wieder fit werde?«
»Ja, ja, das meine ich ja. PECH. Das steht für Pause, Eis, Compression, Hochlegen. P-E-C-H. Eine einfache Regel, die du jetzt befolgen solltest. Und wenn es dich tröstet, kannst du beim Hochlegen gern die neuen Laufschuhe anziehen. Nur nicht zu eng schnüren.«
»Ah, so«, erwiderte Jean-Baptiste, »verstehe. P-E-C-H. Klar. Wusste nur nicht, dass ›Kompression‹ mit C geschrieben wird, daher meine Begriffsstutzigkeit. Danke für die Lektion. Ich werd’ also PECH befolgen.«
»Sie sind ein ausgesprochener Klugscheißer, Jean-Baptiste de Montfort«, kommentierte der Arzt, Jean-Baptiste jetzt auch siezend. »So schlecht scheint es Ihnen nicht zu gehen. Und jetzt raus hier, andere Patienten mit echten Problemen warten auf mich!«
»Gewiss doch, ich will Sie schließlich nicht davon abhalten, Leben zu retten«, sagte Jean-Baptiste und lächelte.
Der Arzt lächelte zurück und bot ihm die Hand.
»Na, dann bis bald«, sagte er.
»Das will ich nicht hoffen«, entgegnete Jean-Baptiste und ergriff die Hand des Arztes. »Ich hoffe eigentlich, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen.«
Lionel Frey verdrehte die Augen, und Jean-Baptiste humpelte dem Ausgang entgegen. Bevor er die Praxis verließ, drehte er sich noch einmal um.
»Wie ist das eigentlich, wenn du mal krank bist?«, fragte er den ihm nachblickenden Lionel Frey.
»Ist das wieder eine deiner hinterlistigen Fragen?«, fragte der Arzt misstrauisch zurück.
»Nein, nein«, sagte Jean-Baptiste beschwichtigend. »Ich habe mich nur gefragt, ob ihr Ärzte auch mal zu anderen Ärzten geht oder ob ihr euch immer selbst behandelt.«
»Natürlich gehen wir auch zu anderen Ärzten«, erwiderte Frey. »Zum Beispiel zum Zahnarzt. Oder eben zu Experten, mit deren Fachgebiet wir uns nicht auskennen.«
Jean-Baptiste nickte.
»Wieso?«, wollte Frey wissen.
»Nur so. Die Frage kam mir am Wochenende in den Sinn. Danke!«
Er hob die Hand zu einem letzten Gruß, dann verließ er die Praxis.
Ein abergläubischer Mensch hätte die Aufforderung, eine PECH-Regel zu befolgen möglicherweise als Warnung aufgefasst. Doch Jean-Baptiste war nicht abergläubisch. Außerdem fühlte er sich nach dem Wochenende trotz der Verletzung geradezu revitalisiert. Julie hatte sich beeindruckt gezeigt, dass Jean-Baptiste laufen gegangen war. Sie hatten zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit Sex gehabt. Er war mit seiner Tochter erst einkaufen gewesen, wobei für Claire ein neues Sommerkleid und für Jean-Baptiste die neuen Laufschuhe herausgesprungen waren, und anschließend hatten sie gemeinsam im Kino »Der Plan«, einen Film mit Matt Damon und Emily Blunt, angesehen.
Und so stürzte Jean-Baptiste sich, strotzend vor Adrenalin und Zuversicht, in die Recherchen zum Fall Goldberg.
Freys Worte noch im Ohr war im Kommissariat Jean-Baptistes erste Tat, das Internet nach einem Doktor Chambille zu befragen. Er wurde fast sofort fündig. Doktor Claude Chambille. Allgemeinmedizin und Tropenkrankheiten. Jean-Baptiste griff zum Telefonhörer und wählte die angegebene Nummer.
Nachdem er der Telefonistin gegenüber den Ausdruck »Kriminalpolizei« dreimal erwähnt hatte, wurde Jean-Baptiste durchgestellt.
»Spreche ich mit Claude Chambille?«, fragte er dann. »Ich bin Jean-Baptiste de Montfort von der Pariser Kriminalpolizei.«
»Ich bin Claude Chambille. Was kann ich für Sie tun?«
Doktor Chambilles Tonfall war neutral, unverbindlich.
»Herr Chambille, kennen Sie einen gewissen Hermann Goldberg?«
Die Antwort kam einen winzigen Augenblick verzögert:
»Warum?«
»Ich ermittle wegen eines dreifachen Mordes gegen Goldberg, und da ich davon ausgehe, dass Sie ihn kennen, muss ich Sie befragen.«
»Reden Sie von der Angelegenheit von vor anderthalb Jahrzehnten?«
»Von genau den Morden rede ich.«
»Es hat nie eine Verurteilung gegeben, oder täusche ich mich?«
Natürlich nicht, du Schlaukopf, er ist ja getürmt, dachte Jean-Baptiste. »Richtig, Goldberg konnte damals entkommen.«
»Und gibt es neue Hinweise auf Hermanns Verbleib?«
»Nein«, erklärte Jean-Baptiste, »Wir haben den Fall wieder aufgenommen. Es ist eine Routine –«
»Herr Kommissar, ich will Ihnen nicht zu nahe treten«, unterbrach ihn Chambille in einem Tonfall, der deutlich machte, dass es ihm ziemlich gleichgültig war, ob er Jean-Baptiste zu nahe trat oder nicht, »und es mag ja sein, dass Sie im öffentlichen Dienst über die Ressourcen verfügen, Arbeit mehrfach zu machen. Aber ich kann es mir nicht erlauben, meine Zeit mit so etwas zu verschwenden. Wenn die Polizeiarbeit damals anständig gemacht wurde, wovon man ja wohl ausgehen sollte, dann dürfte es, wenn es keine neuen Hinweise gibt, wie Sie mir versichern, unwahrscheinlich sein, mit den Ermittlungen jetzt weiterzukommen. Wissen Sie, in gerade diesem Augenblick wartet ein malariakrankes dreijähriges Kind in meinem Behandlungszimmer. Die jungen Eltern waren so töricht, mit dem Kleinen ohne Schutz durch den Dschungel von Borneo zu kraxeln. Können Sie erraten, wie ich da meine Prioritäten hinsichtlich der Nutzung meiner Zeit setzen werde? Gut! Dann entschuldigen Sie mich jetzt! Wenn Sie meinen Rat wollen: Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit diesem Unsinn! Tun Sie etwas Sinnvolles! Auf Wiederhören.«
Jean-Baptiste war so überrumpelt, dass er nicht einmal den Gruß des Arztes erwiderte, geschweige denn seiner Empörung über das Verhalten des Arztes Ausdruck verlieh.
Was für ein arrogantes Arschloch, dachte Jean-Baptiste und schüttelte den Kopf.
Natürlich dachte Jean-Baptiste gar nicht daran, Chambilles Rat zu befolgen. Im Gegenteil war er ein weiterer Ansporn, alles daranzusetzen, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Die nächsten zwei Tage schuf er ein Fundament für seine Ermittlungen. Er telefonierte viel, befragte Leute, die damals mit den Goldbergs zu tun gehabt hatten. Am Mittwoch schließlich warteten ein paar wichtige Ereignisse auf ihn.
Mittwoch, 18. Mai 2011. Tag X-10.
Jean-Baptiste de Montfort.
Ein an sich weniger wichtiges Ereignis war, dass Hauptkommissar Francis Bertillon Jean-Baptiste zum Mittagessen einlud. Nachdem er zwei Tage lang extrem diszipliniert gearbeitet und sich kaum Pausen gegönnt hatte, willigte Jean-Baptiste mit Freuden ein. Er verstand sich gut mit seinem Vorgesetzten. Bertillon erzählte von seiner zweijährigen Enkeltochter und erkundigte sich nach Jean-Baptistes Tochter. Es war ein angenehmer Moment. Um diesen noch etwas zu verlängern, blieben Jean-Baptiste und der