Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt

Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis - Stephan Waldscheidt


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und, ach, so schreckhaften Leser nicht zu verwirren und ihn um Himmels Willen nicht aus seinem fiktionalen Traum zu reißen (den ich lieber Erzähltraum nennen will, weil »fiktionaler Traum« ja bloß eine armselige, wortwörtliche Übersetzung aus dem Englischen ist).

      An anderer Stelle habe ich das mit der Erzählperspektive bereits dargestellt. Hier will ich es präzisieren:

      Ein Wechsel des POV (point of view = Erzählperspektive) in einer Szene ist dann problematisch

      1a. wenn es nicht der einzige Wechsel bleibt (»head hopping«) oder

      1b. der Leser ihn nicht rechtzeitig mitbekommt

      und wenn

      2. die Erzählstimme eine personale ist und keine auktoriale.

      Dennoch scheint der Wechsel viele Leser eben nicht zu stören. Belegt wird das von manchen Bestsellern, die sich lesen, als hätte der Autor einer Kröte eine Kamera auf die Stirn getackert und ließe sie wahllos von einem Kopf zum nächsten hüpfen.

      Warum das die vielen Leser nicht stört, ist mir rätselhaft. Mich macht es wahnsinnig (Merke: Wahnsinn ist nicht Suspense*.), wenn ich nicht mal mehr weiß, welcher der sieben Leute in dem Raum denkt, dass Heribert heute hübsch aussieht und in wessen Hose die Magnum sich langsam, aber unweigerlich durch das große Loch in der Tasche Richtung Loafers frisst.

      Der Grund für dieses Herumgehüpfe ist fast immer ein ganz banaler: Der Autor hat sich keine Gedanken über die Erzählperspektive gemacht. Er schreibt aus der Perspektive, die ihm, sorry, gerade in den Kopf kommt.

      Es gibt Genies, die tun das, und am Ende steht da ein fantastischer Roman. Es sind deren wenige. Die meisten scheitern. (Nicht unbedingt bei den Verkaufszahlen, aber daran, einen guten Roman geschrieben zu haben. Nein, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ob der Erfolg ihnen Recht gibt.)

      Wir Nicht-Genies und (noch) nicht von der Bestseller-Glücksfee Begünstigte lernen daraus, dass es eine gute Idee ist, zu wissen, was man tut. Auch beim Schreiben.

      Gerade beim Schreiben.

      Gertrud Fussenegger wusste das. Etwa, als sie den historischen Roman »Zeit der Raben, Zeit der Taube« (Deutsche Verlagsanstalt 1960, dtv 2005) schrieb. An einer Stelle entscheidet sie sich bewusst für einen Wechsel der Perspektive und erzielt dadurch eine enorme dramatische Wirkung.

      Der kleine Léon will in den Zirkus und ein kleines Mädchen mitnehmen. Sein Problem: Er braucht Geld. Vielleicht von Maman?

       Also versuchte Léon sein Glück bei der Mutter. Sie aber zeigte sich ängstlich: »Allein zum Zirkus – ihr Kinder – niemals, niemals. Denk, wenn ein Tiger freikommt oder wenn eine Schlange aus dem Gefängnis flieht, das ist schon oft geschehen, und dann fallen sie an, was ihnen in den Weg kommt, sie sind wild von der langen Gefangenschaft, wilder noch als in der freien Natur; es ist ja wohl überhaupt eine Sünde, die Tiere in Käfige zu sperren, nur, damit man sie herzeigen und anschauen kann.«

      Léon bekommt sein Geld nicht, und er muss die kleine Véronique, der er den Besuch doch versprochen hat, vertrösten und anlügen. Dann bleibt ihm nur eins:

       Am Abend dieses Tages stahl Léon seinem Vater zwei Sous aus der Rocktasche.

      Am nächsten Tag zeigt Léon Véronique das Geld.

       Véronique beugte sich vor, als wollte sie ihren Augen nicht trauen. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die beiden Sous, dann stellte sie das Körbchen nieder mit dem irdenen Krug und dem Brot des Vaters, sie stellte es einfach an den Wegrand hin und sagte: »Gut, dann gehen wir.« Und sie folgte Léon, als habe er sie mit dem Geld gekauft.

      Niemand wusste nachher zu sagen, wie es geschehen war und woran es eigentlich gelegen hatte, denn die Leute, die zu der Zeit im Zelt gewesen und der letzten Fütterung beigewohnt hatten, zerstreuten sich rasch, vielleicht, weil sie sich schämten, dass sie sich durch ein Nichts so sehr hatten erschrecken lassen, vielleicht auch, weil sie sich fürchteten, zur Verantwortung gezogen zu werden. Denn, obgleich man das Kind erst später fand, musste sich vermutlich doch in den meisten die Empfindung festgehakt haben, dass während der plötzlichen Panik in dem rasenden Gedränge irgendein Unglück geschehen sei. […] Das kleine Mädchen fand man erst später unter einer umgestürzten Bank, platt am Boden liegend, regungslos.

       Es ist Nacht geworden in Périgeux, und die Straßen sind fremd und die Häuser sind fremd, alles ist fremd für das Kind, das herumirrt und nicht weiß, wohin.

       Irgendwo ist Fenestrau, sind Vater, Mutter und die gute Tante Eugenie, irgendwo ist das weiße und weiche Bett im Winkel, die kleinen Brüder, Wärme, Sattheit und Schlaf.

       Hier ist Nichts, schreckliches Nichts, leere, grausig leere finstere Gassen. Die Häuser stehen hinter den verriegelten Läden stumm und feindlich wie versiegelt.

      Die bisherige Erzählperspektive, eine personale in der dritten Person bei Léon, wird aufgebrochen. Das eigentliche Ereignis im Zirkus wird dann in einem unpersonalen, nüchternen Ton berichtet, der an eine Reportage erinnert. Statt aber nüchtern zu wirken, sorgen die im Vorfeld aufgebaute Erwartung und die Neugier des Lesers dafür, dass die Reportage noch eindringlicher, ja, brutaler wirkt, als es eine personale Erzählung aus Sicht von Léon geschafft hätte – und: Die in solchen Szenen stets lauernde Melodramatik wird von vornherein umgangen.

      Spannend ist die Reportage obendrein. Erstens durch die im Vorfeld gezeigten Ängste der Mutter. Und zweitens dadurch, dass die Autorin auf diese Weise vermeiden kann, sofort zu berichten, was geschehen ist. Wäre sie in der Erzählperspektive des kleinen Léon geblieben, hätte ein solches Aufschieben und Verschweigen unnatürlich, gezwungen, gewollt gewirkt statt überzeugend kindlich.

      Auch der Wechsel zurück in die personale Erzählperspektive entfaltet seine Wirkung um ein Vielfaches verstärkt: Die eindringlichen Emotionen, die dort gezeigt werden, auch Léons Schuld, kontrastieren mit der Nüchternheit des vorangegangenen Berichts.

      Suchen Sie in Ihrem Roman nach einer Szene, deren dramatische Wirkung Sie durch Perspektivwechsel verstärken können. Wenn Sie das so geschickt anstellen wie Gertrud Fussenegger hier, wird der Leser sich nicht aus seinem Erzähltraum gerissen fühlen, sondern im Gegenteil noch tiefer in Ihre Geschichte versinken.

      __

      *) Es gibt viele Möglichkeiten, Spannung und Suspense zu definieren. Folgende erscheinen mir zweckdienlich.

      Spannung = Ungewissheit darüber, wie ein Konflikt gelöst wird.

      Suspense = Spannung + gespannte Erwartung + emotionales Interesse am Ausgang des Konflikts.

      Informationsvorsprung von Leser oder Romanfigur

       Ich weiß etwas, was du nicht weißt

       Als er wieder draußen ist, pfeift er vergnügt: Jetzt liegt der Fall klar. Er fährt im Geist mit dem Finger darüber, und es gibt einen klaren Ton, wie ein gut gefülltes Glas Wein.

      Dieser Ausschnitt aus dem extrem abgefahrenen SF-Roman »Quantum« von Hannu Rajaniemi (Piper Fantasy 2011) zeigt einen Charakter, Isidore, der gerade von einem Treffen mit einer Verdächtigen kommt und offenbar mehr weiß als der Leser. Wer hat den Chocolatier ermordet, wie und warum? Genauer: Isidore weiß mehr, als der Autor den Leser wissen lassen möchte. Das ist ein klassisches Mittel, um Spannung zu erzeugen.

      Diese Methode bietet mehrere Vorteile: Zunächst muss der Leser anerkennen, dass der POV-Charakter, meist Heldin oder Held, ziemlich clever ist – cleverer als er. Ein Grund für den Leser, den Helden zu mögen oder ihn zumindest zu bewundern.

      Und: Der Leser rätselt. Zu rätseln gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen von Lesern. Im weiteren Verlauf der Geschichte kann der Autor den POV-Charakter Dinge tun lassen, die, wenn der Leser sie nicht gleich versteht,


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