Schreibcamp: Emotionen. Stephan Waldscheidt
zu machen, verzichte ich im Buch weitgehend auf die Unterscheidung der Gefühlssubjekte Autor, Charakter, Leser. Was Sie direkt, schreibend, beeinflussen können, sind die Emotionen Ihrer Romanfiguren. Daher zielen auch die Übungen vor allem darauf ab.
Im Hinterkopf behalten aber sollten Sie stets, dass das eigentliche Ziel Ihrer Bemühungen der Leser ist. Die Emotionen der Charaktere sind dabei eins der wichtigsten Instrumente, mit denen Sie die Gefühle Ihrer Leser manipulieren und steuern.
Sind Sie eigentlich in Ihren Roman verliebt? Bereitet er Ihnen Herzklopfen? Blättern Sie weiter zum nächsten Tag, um damit anzufangen, Ihrem Roman das zu geben, was ihn zum Herzklopfer macht.
Tag 1: Genre und Emotionen
Warum lesen bestimmte Leser am liebsten Fantasy-Romane? Warum lesen andere am liebsten Krimis? Wieder andere bevorzugen Romanzen. Warum?
Keiner von ihnen tut es, weil er oder sie einem Genre treu sein möchte.
Warum hat ein Leser gerade Lust auf einen historischen Roman? Warum ein anderer auf eine Satire?
Der Grund: Das ausgewählte Genre bedient die Emotion am besten, die der Leser entweder grundsätzlich oder beim Kauf beziehungsweise beim Lesen in einem Buch sucht.
Der Fantasy-Leser liebt das Gefühl, neue Welten, neue Wesen zu entdecken, ihm geht es um das Wundersame dieser Geschichten. Der Krimi-Leser liebt es, die Puzzleteile zusammenzusetzen und das Rätsel zu lösen, das ihm der Autor präsentiert.
Die Romanzen-Leserin liebt ... die Liebe, dieses warme Gefühl des Glücks, die Tränen der Rührung bei einem Happy End.
Welches ist die Emotion, das Ihre Leser in Ihrem Roman intensiver als alle anderen empfinden sollen? Wenn Sie es sofort finden, sehr gut. Wenn Sie eine Weile brauchen, nicht tragisch. Aber suchen Sie!
Nur wenn Sie sich nicht entscheiden können, hat Ihr Roman womöglich ein Problem. Es sei denn, er erzählt eine genreübergreifende Geschichte.
Sie haben das zentrale Gefühl entdeckt? Oder, wenn es sein muss, die zentralen Gefühle?
Ihre Aufgabe: Suchen Sie fünf Stellen, wo dieses Gefühl wichtig und erkennbar ist, und verstärken Sie es. Suchen Sie die Stellen, wo es über mehrere Szenen hinweg nicht auftaucht – und bringen Sie es ein.
Ein Liebesroman muss seine Leser immer wieder das Gefühl von Liebe zeigen, ein Thriller muss seine Leser immer und immer und immer wieder in Hochspannung versetzen. Ein Krimi braucht nicht nur ein einziges Geheimnis, er braucht viele.
Genre-Romane sind besonders anfällig für Melodrama. Der Autor versucht, die gängigen Erwartungen zu bedienen. So geraten ihm die Emotionen der Charaktere leicht zu Klischees oder bloßen Behauptungen.
Morgen werden Sie in Ihrem Roman Melodramatik erkennen und ausmerzen.
Tag 2: Emotionen und Melodrama
Der Leser erlebt eine Stelle dann als melodramatisch, wenn er von Emotionen liest, diese aber nicht nachvollziehen kann. Wenn der Autor Emotionen zwar behauptet, sie jedoch nicht beweist.
Melodramatik ist ein sehr ernstzunehmendes und nicht immer leicht zu lösendes Problem in vielen Romanen. Und: Oft nämlich fällt sie dem Autor nicht einmal auf.
Beispiel: Tanja unterhielt sich eine Stunde angeregt mit ihrer Nachbarin, dann lief sie die Treppe nach oben und sank niedergeschlagen und verzweifelt auf ihr Bett. Sie fühlte sich schlecht, denn Ben hatte sie verlassen. Eine halbe Stunde später zog sie sich um und ging mit Bea und Mila in ihr Stammcafé. Dort vertrödelten sie den Nachmittag und beschlossen, abends noch gemeinsam ins Kino zu gehen, um sich die neue Romantic-Comedy mit Matthias Schweighöfer anzusehen. Sie würde bestimmt nur heulen.
Das Gefühl der Niedergeschlagenheit und Verzweiflung wie auch die Furcht vor Tränen wird hier vermutlich nur behauptet. Denn Tanjas andere Handlungen wirken nicht wie die einer Untröstlichen. Als Leser haben wir nicht den Eindruck, Tanjas authentischem Gefühl beizuwohnen, sondern nur einem Melodrama.
Wann immer Sie eine Emotion direkt niederschreiben – was ab und an durchaus legitim ist, nicht alles muss durch Handlung gezeigt werden –, sollten Sie das Umfeld dieses Gefühls überprüfen. Zum Beispiel jetzt.
Wann haben Sie in Ihrem Roman eine Emotion direkt benannt? Spüren Sie solche Stellen auf. Dabei hilft Ihnen die Suchfunktion Ihres Schreibprogramms.
Ihre Aufgabe: Suchen Sie mindestens fünf der gängigen Emotionsadjektive – traurig, wütend, böse, verzweifelt usw. – und machen Sie den Melodrama-Check.
Diese Aufgabe enthüllt noch etwas anderes in Ihrem Roman: Die meisten Autoren haben so ihre Lieblingswörter, die wieder und wieder im Text auftauchen. Auch Sie. Wahrscheinlich finden sich Emotionsbeiwörter darunter. Achten Sie in Zukunft besonders auf diese Ihre speziellen »Freunde«.
Falls Sie Ihre Macken nicht kennen: Lernen Sie sie kennen. Sie könnten sich als wertvolles Kapital für weitere Werke erweisen.
Melodrama entsteht also dann besonders schnell, wenn Sie Abkürzungen nehmen, statt nach dem tatsächlichen, treffenden Gefühl des Charakters zu forschen und es nachzufühlen.
Als Faustregel merken Sie sich: Je wichtiger ein Gefühl für den Charakter oder für den Plot ist, desto mehr Raum oder Präzision sollten Sie ihm zukommen lassen, entweder über eine bessere Beschreibung oder über die Darstellung in Form von Handlung (Anna schlägt eine Tür so fest zu, dass die Klinke abfällt. Ja, sie ist wütend.). Gefühle leben, sie verändern, sie entwickeln sich, sie lassen sich selten so einfach in ein einziges, noch dazu sehr allgemeines Wort fassen.
Als guter Ausgangspunkt für die Suche nach wichtigen Gefühlen bieten sich die Meilensteine des Romans an, beispielsweise die Plotpoints, der Höhepunkt, der Schluss.
Also los, Sie Melodrama-Spürhund, schnüffeln Sie los, finden Sie die melodramatischen, die zu einfachen, die zu statischen Gefühle und ersetzen Sie sie mit dem aufrichtigen, dem authentischen Gefühl oder einer entsprechenden Handlung. Konzentrieren Sie sich dabei heute auf die Meilensteine in Ihrem Roman: Aufhänger, auslösendes Ereignis, Wendepunkt am Ende des ersten Akts, Mittelpunkt, Wendepunkt am Ende des zweiten Akts, Höhepunkt, Schluss.
Worauf warten Sie? Das ist ein Arbeitsbuch, kein Strand.
Um das Finden von präzisen Wörtern für Emotionen und wann einzelne Wörter, insbesondere Adjektive, nicht genug sind, darum geht es morgen.
Tag 3: Emotionen und Beiwörter
Ein wichtiges Medium des Melodramas sind Adjektive und Adverbien. Mit ihnen benennt der Autor ein Gefühl, den Beweis dafür aber bleibt er dem Leser schuldig. Beweisen heißt Zeigen, heißt vor Augen führen – und das gelingt Ihnen am besten mit Handlung, also mit Verben.
Wie oben kurz angesprochen, kann ein treffend gewähltes Beiwort ab und an eine legitime Abkürzung sein: »Melanie war traurig.« Der Satz klärt die Situation schnell. Er genügt, sofern das beschriebene Gefühl nicht zentral für die Geschichte ist.
Das treffendere Beiwort ist fast immer das spezifischere Adjektiv oder Adverb. Ein »Melanie ging es nicht gut« wird von einem »Melanie war traurig« getoppt und das wiederum von einem »Melanie war untröstlich«.
Ihre erste Aufgabe: Suchen Sie sich fünf Adjektive oder Adverbien in Ihrem Roman, die Sie durch treffendere Beiwörter ersetzen.
In den meisten Fällen jedoch, in denen Adjektive zur Darstellung von Emotionen herhalten sollen, tritt eine unangenehme Eigenschaft der Beiwörter zutage: Sie frieren das Gefühl ein und bannen es in ein einziges Wort. Wann aber hätte ein Wort jemals etwas so Komplexes wie eine Emotion auch nur annähernd exakt beschrieben? Weil das kein Problem allein von Adjektiven ist, dazu morgen