Krieg und Frieden. Лев Толстой
denkst du?« fragte zornig der alte Fürst. »Glaubst du, ich halte sie zurück? Ich könnte mich nicht von ihr trennen? Meinetwegen morgen! Aber ich sage dir, ich muß meinen Schwiegersohn vorher besser kennen. Du kennst meinen Grundsatz, alles offen und aufrichtig. Morgen werde ich sie in deiner Gegenwart fragen; will sie, dann mögen sie sich heiraten!« schrie der Alte.
»Ich will Ihnen offen sagen«, erwiderte Fürst Wassil im Tone eines listigen Menschen, der sich von der Unmöglichkeit überzeugt hat, einem scharfsinnigen Menschen gegenüber Winkelzüge zu machen, »Sie durchschauen die Menschen sofort. Anatol ist kein Genie, aber ein ehrlicher, guter Junge, ein vortrefflicher Sohn!«
»Nun, nun, gut. Wir werden sehen.«
Wie es immer der Fall ist bei Damen, die in der Einsamkeit ohne männliche Gesellschaft leben, so fühlten auch alle drei Damen im Hause des Fürsten Nikolai einmütig, daß ihr Leben bisher kein Leben gewesen sei. Die Fähigkeit, zu fühlen, zu denken und zu beobachten, verzehnfachte sich in ihnen und ihr Leben schien sich plötzlich durch ein neues, bedeutungsvolles Licht erhellt zu haben.
Die Fürstin Marie dachte nicht an ihr Gesicht und ihre Frisur. Das schöne, offene Gesicht des Mannes, welcher vielleicht ihr Gemahl sein sollte, nahm alle ihre Gedanken gefangen. Er erschien ihr gut, tapfer, männlich und entschlossen; davon war sie überzeugt. Tausend Traumbilder von künftigem Familienleben erfüllten beständig ihre Phantasie. »Aber bin ich nicht zu kalt gegen ihn?« dachte sie, und vergebens bemühte sie sich, liebenswürdiger gegen den neuen Gast zu sein.
»Armes Ding! Verteufelt häßlich!« dachte Anatol.
Mademoiselle Bourienne, welche durch die Ankunft Anatols in hochgradige Erregung geraten war, dachte anders. Natürlich fühlte sich das hübsche junge Mädchen, ohne bestimmte Stellung in der Welt, ohne Verwandte und Freunde, nicht berufen, ihr ganzes Leben den Diensten des alten Fürsten als Vorleserin zu weihen und der Freundschaft zur Fürstin Marie. Schon seit langer Zeit erwartete sie jenen russischen Fürsten, welcher sogleich verstehen würde, ihre Vorzüge vor den russischen, häßlichen, geschmacklos gekleideten, linkischen Fürstinnen zu schätzen, der sie lieben und entführen werde. Und nun war endlich dieser russische Fürst gekommen, er wird sie entführen, dann wird »meine arme Mutter« erscheinen, und er wird sie heiraten. So gestaltete sich im Kopfe der Französin ihre Zukunft, während sie mit Anatol über Paris sprach. Alles das war schon lange in ihrem Kopfe bereit und gruppierte sich jetzt um Anatol, welchem sie soviel als möglich zu gefallen suchte.
Die kleine Fürstin bereitete sich vor, wie ein altes Kavalleriepferd, das plötzlich die Trompete hört, in den gewohnten Galopp der Koketterie zu fallen, ohne alle Hintergedanken, ohne Kampf, nur mit naivem Leichtsinn. Obgleich Anatol in weiblicher Gesellschaft gewöhnlich das Wesen eines Menschen annahm, der der unaufhörlichen Aufmerksamkeit der Damen für ihn überdrüssig ist, empfand er doch ein egoistisches Vergnügen, als er seinen Einfluß auf die drei Damen bemerkte. Außerdem empfand er für die hübsche, herausfordernde Bourienne leidenschaftliche, zynische Regungen, welche bei ihm mit außerordentlicher Schnelligkeit erwachten und ihn zu den tollsten Streichen verführten.
Nach dem Tee begab sich die Gesellschaft in den Salon. Man bat die Fürstin, auf dem Klavier zu spielen. Anatol stützte sich vor ihr auf den Ellbogen, neben Mademoiselle Bourienne, und seine Augen richteten sich lachend und vergnügt auf die Fürstin Marie. In freudiger Erregung fühlte Marie seinen Blick, und ihre Lieblingssonate versetzte sie in poetische Stimmung. Obgleich Anatols Blicke auf sie gerichtet waren, bezogen sie sich doch nicht auf sie, sondern auf die Bewegung des Füßchens von Mademoiselle Bourienne, das er unter dem Fortepiano mit seinem Fuß berührte. Auch Fräulein Bourienne blickte nach der Fürstin hin, und in ihren schönen Augen lag ein Ausdruck des freudigen Erschreckens und der Hoffnung, welcher der Fürstin Marie noch neu war.
»Wie sie mich liebt!« dachte Marie. »Wie glücklich bin ich jetzt, und wie glücklich kann ich mit einer solchen Freundin und einem solchen Manne sein!«
Als man sich nach dem Abendessen trennte, küßte Anatol die Hand der Fürstin. Ohne zu wissen, woher sie die Kühnheit nahm, blickte sie mit ihren kurzsichtigen Augen gerade in das schöne Gesicht, das sich ihr näherte. Dann ergriff er die Hand von Fräulein Bourienne, welche zusammenfuhr und erschreckt nach der Fürstin blickte. Es war unschicklich von seiner Seite; aber er tat alles so einfach und mit solcher Unbefangenheit.
»Welches Zartgefühl!« dachte Marie. »Glaubt sie vielleicht, ich werde eifersüchtig sein und ihre zärtliche Ergebenheit für mich nicht zu schätzen wissen?« Sie ging auf Fräulein Bourienne zu und küßte sie innig. Anatol wollte die Hand der kleinen Fürstin ergreifen.
»Nein, nein! Erst wenn Ihr Vater mir schreibt, daß Sie sich gut aufführen, werde ich Ihnen erlauben, meine Hand zu küssen, nicht früher!« Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger und verließ lachend das Zimmer.
47
Außer Anatol vermochten alle in dieser Nacht lange nicht einzuschlafen.
»Soll er wirklich mein Mann sein, dieser fremde, schöne, gute Mann?« dachte Marie und eine Angst überfiel sie. Sie fürchtete sich. Hinter dem Bettschirm in der dunklen Ecke schien etwas zu stehen, und dieses Etwas war dieser Mann mit der weißen Stirn und den schwarzen Augenbrauen. Sie rief die Zofe und bat sie, bei ihr im Zimmer zu schlafen.
Mademoiselle Bourienne ging an diesem Abend lange im Wintergarten auf und ab und erwartete jemand. Bald lächelte sie jemand zu, bald vergoß sie Tränen bei den Worten »meine arme Mutter!«
Die kleine Fürstin war ärgerlich über ihre Zofe, weil das Bett schlecht gemacht war. Sie saß im Schlafrock mit der Haube in einem Lehnstuhl, während Mascha mit verschlafenem Gesicht und zerzaustem Zopf zum dritten Mal das Bett aufschüttelte.
Auch der alte Fürst schlief nicht. Tichon hörte im Halbschlummer, wie er zornig pfiff und auf und ab ging. Der alte Fürst fühlte sich beleidigt in seiner Tochter, die er mehr als sich selbst liebte.
»Kaum kommt der erste beste, so wird der Vater und alles vergessen. Sie läuft hinauf, frisiert sich, freut sich, den Vater zu verlassen! Und sie wußte doch, daß ich das bemerken werde. Als ob ich nicht sehe, daß dieser Schlingel nur nach der Bourienne sieht! Soll ich sie fortjagen? Aber wenn Marie für sich keinen Stolz hat, sollte sie ihn wenigstens für mich haben! Man muß ihr beweisen, daß dieser Dummkopf nicht an sie denkt und nur nach der Bourienne sieht.«
Der alte Fürst wußte wohl, daß sein Spiel gewonnen war, wenn er der Tochter sagte, sie täusche sich, und Anatol wolle nur der Bourienne den Hof machen. Dabei beruhigte er sich, rief Tichon und begann sich auszukleiden.
Obwohl zwischen Anatol und Mademoiselle Bourienne nichts gesprochen worden war, hatten sie einander doch vollkommen verstanden. Sie wußten, daß sie einander viel im geheimen zu erzählen hatten und suchten vom frühen Morgen an sich heimlich zu treffen. Zu der Zeit, als Marie zur gewohnten Stunde zu ihrem Vater ging, fanden sich Mademoiselle und Anatol im Wintergarten. Die Fürstin Marie betrat an diesem Morgen mit besonderer Besorgnis das Kabinett ihres Vaters. Aber der alte Fürst war außerordentlich freundlich gegen sie. Es war jene Freundlichkeit, die Marie wohl kannte, die auf seinem Gesicht erschien, wenn seine trockenen Hände sich vor Ärger zu Fäusten ballten, weil Marie die arithmetische Aufgabe nicht begreifen konnte. Er kam sogleich zur Sache und redete sie mit »Sie« an.
»Man hat mir einen Antrag gemacht in Bezug auf Sie«, sagte er mit gezwungenem Lächeln. »Ich denke, Sie werden erraten haben, daß Fürst Wassil nicht meiner schönen Augen wegen mit seinem Zögling hierhergekommen ist? Gestern hat man mir einen Antrag gemacht, und da Sie meinen Grundsatz kennen, habe ich alles Ihnen vorbehalten.«
»Wie soll ich das verstehen, Väterchen?« sagte Marie erbleichend und errötend.
»Verstehen?« rief zornig der Alte. »Fürst Wassil hielt dich für eine Schwiegertochter nach seinem Geschmack, und macht dir einen Heiratsantrag für seinen Zögling! Was ist da zu verstehen? Und jetzt will ich hören, was du darüber sagst.«
»Ich weiß nicht, Väterchen, wie Sie denken«, flüsterte