Jünglingsjahre. Лев Толстой
Armen fuchtelnd, zwischen den Bänken hindurch auf mich zukamen. Man sah ihnen sofort die Studenten des zweiten Kurses an, die in der Universität wie zu Hause waren. Schon ihre aufgeknöpften Röcke allein drückten eine gewisse Verachtung gegen uns Neueintretende aus und flößten unsereinem Neid und Hochachtung ein. Es schmeichelte mir sehr zu denken, daß alle Umstehenden nun sehen konnten, daß ich mit zwei Studenten des zweiten Kurses bekannt war, und ich stand eilig auf, um ihnen entgegenzugehen.
Wolodja konnte sich nicht enthalten, dem Gefühl seiner Überlegenheit Ausdruck zu leihen.
»Na, du Armer«, sagte er, »noch nicht geprüft, was?«
»Nein.«
»Was liest du da? Bist du denn nicht vorbereitet?«
»Ja, bei zwei Fragen hapert's. Das da verstehe ich nicht.«
»Was, das hier?« sagte Wolodja, und begann, mir das Newtonsche Binom zu erklären, aber so schnell und unklar, daß er – in meinen Augen den Zweifel an seinem Wissen lesend – Dmitrij anblickte, und als er in dessen Augen wohl dasselbe las. rot wurde, aber trotzdem fortfuhr, etwas zu reden, was ich nicht begriff.
»Nein, wart' einmal, Wolodja, ich will's mit ihm durchnehmen, wenn die Zeit reicht«, sagte Dmitrij mit einem Blick nach der Professorenecke und setzte sich zu mir.
Ich merkte sofort, daß mein Freund sich in jener sanften Stimmung befand, die ihn stets überkam, wenn er mit sich selbst zufrieden war, und die ich an ihm ganz besonders liebte. Da er gründliche mathematische Kenntnisse besaß und sich klar ausdrückte, nahm er die eine Frage mit mir so ausgezeichnet durch, daß ich sie bis heute noch weiß. Aber er war kaum damit fertig, als St. Jérôme mir mit lautem Flüstern zuraunte: »A vous, Nicolas!« und ich hinter Ikonin aus der Bank trat, ohne daß wir Zeit gehabt hätten, die zweite noch nicht studierte Frage durchzunehmen. Ich näherte mich dem Tisch, hinter dem zwei Professoren saßen, während ein Gymnasiast vor der schwarzen Tafel stand. Er erklärte lebhaft eine Formel, wobei er mit der Kreide laut an die Tafel schlug, und schrieb immer weiter, obgleich der Professor schon gesagt hatte: »Genug!« und uns die Fragezettel ziehen ließ. »Was fange ich an, wenn ich die Theorie der Kombinationen bekomme?« dachte ich, während ich mit zitternden Fingern einen Zettel aus dem weichen Päckchen der zugeschnittenen Papiere zog. Wie bei dem vorigen Examen, so drängte sich Ikonin auch heute mit kühner Bewegung vor, ergriff, ohne erst zu wählen, den obersten Zettel, warf einen Blick darauf und machte ein finsteres Gesicht.
»Immer fällt mir so verteufeltes Zeugs zu?« brummte er.
Ich sah meine Frage an. O Entsetzen, es war die Theorie der Kombinationen!
»Was haben denn Sie?« fragte Ikonin. Ich zeigte ihm meinen Zettel.
»Das da weiß ich«, sagte er.
»Wollen Sie tauschen?«
»Nein, einerlei, ich fühle, daß ich nicht in Stimmung bin«, konnte mir Ikonin eben noch zuflüstern, da rief uns der Professor auch schon an die schwarze Tafel.
»Alles ist verloren!« dachte ich, »statt des glänzenden Examens, das ich zu machen hoffte, werde ich mich für Lebenszeit mit Schmach bedecken, ärger noch als Ikonin.« Aber plötzlich drehte sich Ikonin vor den Augen des Professors zu mir um, riß mir meinen Zettel aus der Hand und gab mir den seinen. Ich blickte hin – es war das Newtonsche Binom.
Der Professor war ein noch junger Mann mit sympathischem, klugem Gesichtsausdruck, den ihm besonders der stark gewölbte untere Teil der Stirn verlieh.
»Was ist das, meine Herren, Sie tauschen ihre Zettel aus?« fragte er.
»Nein, er hat nur so – er hatte mir den seinen zu lesen gegeben, Herr Professor!« erfand Ikonin, und wieder war dies »Herr Professor« das Letzte, was er an dieser Stelle sprach; wieder an mir vorüber auf seinen Platz zurückkehrend, blickte er die Professoren, dann mich an, lächelte und zuckte mit den Achseln, als wenn er sagen wollte: »Nichts zu machen, Bruder!« – (Ich erfuhr später, daß Ikonin schon zum dritten Mal zur Reifeprüfung erschien.)
Ich beantwortete die Frage, die ich eben erst durchgenommen hatte, ausgezeichnet, ja sogar – wie der Professor mir sagte – besser, als man verlangen konnte, und bekam – eine Fünf.
Das Lateinexamen
Bis zum Lateinexamen ging alles vortrefflich. Der Gymnasiast mit der Binde war der Erste, Ssemenow der Zweite, ich der Dritte. Ich fing sogar schon an, stolz zu werden und ganz im Ernst zu glauben, daß ich trotz meiner Jugend ein tüchtiger Kerl sei.
Schon vom ersten Examentage an hatten alle mit Zittern vom Lateinprofessor erzählt, der gradezu ein reißendes Tier sei und Genuss finde an dem Verderben junger Leute, besonders solcher, die auf eigene Kosten studierten, und daß er angeblich nur lateinisch oder griechisch spreche. St. Jérôme, der mein Lateinlehrer gewesen war, suchte mir Mut einzuflößen, und auch mir selbst schien es, daß ich nicht schlechter vorbereitet sei als die andern, da ich Cicero und einige Oden von Horaz ohne Wörterbuch übersetzen konnte und den Zumpt vortrefflich kannte; aber es kam anders. Den ganzen Vormittag hörte man von nichts anderem, als von dem Unglück derer, die vor mir an die Reihe gekommen waren: dem einen hatte der Professor eine Null gegeben, dem andern eine Eins, den dritten hatte er gescholten und ihm gedroht, ihn hinauszujagen und so weiter. Nur Ssemjonow und der erste Gymnasiast gingen ruhig wie immer vor und kamen jeder mit einer Fünf zurück. Mir ahnte schon Unglück, als ich gleichzeitig mit Ikonin an das Tischchen gerufen wurde, an welchem der gefürchtete Professor ganz allein saß; dieser gefürchtete Professor war ein kleiner, magerer Mensch, von gelblicher Gesichtsfarbe, mit langen, öligen Haaren und einem sehr nachdenklichen Gesichtsausdrucke.
Er reichte Ikonin einen Band der Reden Ciceros und forderte ihn auf, zu übersetzen.
Zu meinem großen Erstaunen las Ikonin nicht bloß, sondern übersetzte auch einige Zeilen mit Hilfe des Professors, der ihm einzelne Worte vorsprach. Da ich meine Überlegenheit über einen so schwachen Nebenbuhler fühlte, konnte ich ein Lächeln, und sogar ein etwas verächtliches Lächeln, nicht unterdrücken, als es zur Analyse kam und Ikonin nach früherer Art in ein augenscheinlich endloses Schweigen verfiel. Mit diesem klugen, ein wenig spöttischen Lächeln wollte ich dem Professor gefallen, aber grade das Gegenteil geschah.
»Sie wissen es wahrscheinlich besser, weil Sie lächeln?« sagte der Professor zu mir in schlechtem Russisch, »nun, wir wollen ja sehen, sagen Sie es.«
Später erfuhr ich, daß der Lateinprofessor Ikonin protegierte und daß Ikonin sogar bei ihm wohnte. Ich beantwortete sofort die Frage aus der Syntax, die Ikonin gestellt worden war, doch der Professor machte ein betrübtes Gesicht und wandte sich von mir ab.
»Gut, auch Sie werden an die Reihe kommen, dann werden wir ja sehen, was Sie wissen«, sprach er, ohne mich anzublicken, und begann Ikonin zu erklären, was er ihn gefragt hatte.
»Gehen Sie«, schloss er, und ich sah, daß er im Zensurbuch Ikonin eine Vier stellte. »Na«, dachte ich, »er ist ja gar nicht so streng, wie sie behaupten.« Nachdem Ikonin fortgegangen war, beschäftigte sich der Professor wohl fünf Minuten lang, die mir wie fünf Stunden erschienen, mit dem Fortlegen der Bücher, der Fragezettel, dem Zurechtrücken des Sessels, auf dem er sich drehte und reckte, dann schnäuzte er sich, blickte sich im Saale um, schaute überall hin, nur nicht auf mich. Doch das alles erschien ihm noch nicht genügend; er schlug ein Buch auf und stellte sich, als ob er lese, so als wäre ich überhaupt nicht da. Ich trat ein wenig näher heran und räusperte mich.
»Ach ja, Sie sind auch noch da! Nun übersetzen Sie mal irgend etwas«, sprach er, indem er mir ein Buch reichte, »oder nein, lieber dieses hier.« Er blätterte in dem Bande Horaz und schlug eine Stelle auf, die, wie mir schien, niemals und von niemand übersetzt werden konnte.
»Dies hier habe ich nicht vorbereitet«, sagte ich.
»Sie möchten wohl das beantworten, was Sie auswendig gelernt haben? Sehr gut! Nein, übersetzen Sie nur dieses hier.«
Ich bemühte mich, so gut es ging, den Sinn zu erraten, aber der Professor