Sünde. Ben Bennett
ihres Herzens, loderte ein unheilbarer, stiller Schmerz. Es war ein Herz, für das es keinen Schlüssel gegeben hatte. Keine Tür, die sich auch nur einen Spaltbreit öffnete, damit der Schmerz entkommen konnte. Jeden Tag ein wenig und in kleinen Dosen, bis das Herz eines Tages wieder halbwegs intakt war. Doch alles, woran das Herz ihrer Mutter sich ein Leben lang hatte wärmen können, war eine Decke aus Schweigen gewesen.
Hannahs Blick fiel durch das von einer schmalen, weiß lackierten Holzleiste exakt auf halber Höhe in zwei Hälften geteilte Fenster hinunter auf die Straße. Genau hier, im Salon mit dem kleinen Erker, hatte Esther oft gestanden und durch die schweren, nur einen winzigen Spalt weit geöffneten Vorhänge hinaus gespäht. Allein auf diese Weise, als anonyme Zeugin und Beobachterin, im sicheren Schatten ihrer Wohnung, war es ihr möglich, an dem Leben teilzuhaben, das sich dort unten abspielte. Das Leben, vor dem sie sich versteckte.
Der Salon lag im Halbdunkel, erleuchtet nur durch das von außen eindringende glutgelbe Licht der Straßenlaternen und von den sanft aufflackernden, beinahe vollständig heruntergebrannten Kerzen, die Hannah am frühen Abend angezündet hatte.
Für einen Moment glaubte sie, das Spiegelbild ihrer Mutter im Küchenfenster zu sehen. Sie stand direkt hinter ihr, blass und durchsichtig. Ihr Blick war auf den Briefumschlag gerichtet. Es war ein müder Blick, so wie der eines Menschen, der bereits vor langer Zeit Hoffnung als eine überbewertete Währung enttarnt hatte.
„Auch Geschenke haben ihren Preis, mein Schatz. Du musst mir versprechen, vorsichtig zu sein. Versprichst du mir das?“
Hannah drehte sich um. Doch Fehlanzeige. Niemand da.
Nach ihrem Tod war es schon einige Male vorgekommen, dass sie sich eingebildet hatte, Esther zu sehen. Sie war die engste Bezugsperson in ihrem Leben gewesen, fast vier Jahrzehnte lang. Die Wohnung war untrennbar mit ihr verbunden. Offensichtlich hatte sie dieses Zuhause auch ein Jahr nach ihrem Tod noch nicht endgültig verlassen. Jedenfalls nicht für Hannah.
Einen Augenblick überlegte sie, das Geld einfach zu behalten. Um wie vieles einfacher würde es ihr Leben machen – vor allem in ihren jetzigen Umständen.
Doch dafür war es bereits zu spät.
Diese Menschen wussten nun, wo sie arbeitete und wo sie wohnte.
Während die Panik erneut in ihr aufflackerte, nahm sie den Briefbogen zur Hand und überflog nervös das in eleganter Schrift mit einem Füllfederhalter verfasste Anschreiben bis zum letzten Satz.
„Liebe Hannah Goldlaub: Ich freue mich darauf, Sie schon bald kennenzulernen und Ihnen die guten Nachrichten Ihr Erbe betreffend persönlich zu überbringen.
Mit freundlichen Grüßen aus Wien nach Buenos Aires,
Ihr Maximilian Schön.“
Maximilian Schön. Offenbar war er der Inhaber des Wiener Juweliergeschäfts, von dem Ludwig Leonhard, der Anwalt, gesprochen hatte.
„Herr Schön lädt Sie ein, die Details mit ihm persönlich in Wien zu besprechen.“
Das waren seine Worte gewesen.
Nachdenklich fuhr Hannah mit den Fingern über das edle, seidene Papier. Als könne sie es auf diese Weise zum Sprechen bringen.
Ihr Blick fiel auf das Bündel frischgedruckter grüner und goldgelber Geldscheine, das Business Class-Flugticket, den Reiseführer und die Zimmerreservierung für eines der feinsten Wiener Hotels, in dem sie bis heute überglücklich gewesen wäre saubermachen zu dürfen – und in dem sie nun als Gast residieren würde.
In einer Suite.
All das erschien ihr wie ein Traum. Auch wenn es fast zu schön war, um wahr sein zu können. Denn natürlich war es auch ihr nicht entgangen: Dass das Leben eine stete Mahnung war, dass Träume nicht wahr werden. Und wenn sie wahr wurden, waren es in aller Regel Albträume. So war es nicht nur den Träumen ihrer Mutter ergangen. Und doch: Wer war sie, dass sie ein solches Angebot ausschlagen konnte? Wenn sie den Inhalt dieses geheimnisvollen Umschlags aus Wien nicht ernst nahm, so mysteriös er auch war, würde sie, die Kopie ihrer Mutter, weiterhin so leben und eines Tages so sterben wie das Original: Arm, einsam und unglücklich.
Möglicherweise war es an der Zeit, ihre Sachen zu packen und sich auf den Weg nach Pitchipoi zu machen – so sagte man auf Jiddisch, wenn man zu einem unbekannten Ort aufbrach.
Mit einem entschlossenen Ruck zog Hannah den alten Schrank auf, auf dessen oberster Borte sich ein verstaubter alter Lederkoffer befand, der Esther gehört hatte und den sie selbst noch nie in ihrem Leben benutzt hatte.
Denn sie war noch nie verreist.
3
Es war kein Geheimnis.
Sie hatte es akzeptiert, wie andere Menschen ihre Sommersprossen akzeptierten, ihre zu groß oder zu schief geratene Nase oder ihre unstillbare Sehnsucht nach Patatas Bravas.
Hannah war mit einer elektronischen Fußfessel geboren worden.
Einer unsichtbaren elektronischen Fußfessel, um genau zu sein.
Sie konnte Buenos Aires einfach nicht verlassen. So sehr sie es auch wollte. Schon einige Male hatte sie mit dem Gedanken gespielt, aber irgendetwas hatte sie letzten Endes immer daran gehindert. Als fürchte sie, es könne irgendwo ein Alarm losgehen, sobald sie die Stadtgrenzen hinter sich ließ. Sie war eine Porteña, wie sie im Buche stand – so nannten sich die Eingeborenen von Buenos Aires.
Wozu vereisen? Erstens hatte man kein Geld dafür, und zweitens lebte man in einer Stadt, die überall auf der Welt bekannt war als das Paris Südamerikas. Im richtigen Paris war Hannah zwar noch nie gewesen, aber schöner als Buenos Aires konnte es unmöglich sein. Sie liebte den Tango – und Buenos Aires war nun mal die Welthauptstadt des Tango. Sie liebte das Theater – und Buenos Aires hatte so viele Theatersäle wie keine andere Stadt auf dem Globus, mehr sogar als New York oder Paris. Das jedenfalls hatte Hannah in einem Magazin gelesen. Viele dieser Theater lagen an der berühmten Straße, die niemals schläft: Der Avenida Corrientes, auch bekannt als der Broadway von Buenos Aires. Und noch einen anderen, überaus bemerkenswerten Rekord hielt ihre Stadt: Zu Füßen des berühmten Obelisken floss die Avenida 9 de Julio dahin, die breiteste Straße des Planeten Erde.
„Auf keinem anderen Fluss auf diesem Kontinent schwimmen so viele Bäume ohne Wurzeln“, hatte ihre Mutter einmal gesagt.
Damit spielte sie auf die jüdische Gemeinde in Buenos Aires an – den nächsten Rekord. Sie allein bildete eine Stadt mittlerer Größe und war die größte in Lateinamerika.
Ein Mitglied dieser Gemeinde war sie, Hannah.
Ein anderes Mitglied war ihre Mutter gewesen, deren Überreste auf dem Friedhof von Recoleta begraben lagen – dort, wo auch Evita Perón ihre letzte Ruhe gefunden hatte.
Es war ein unwirklich stiller, in ein überirdisch sanftes Leuchten getauchter Sonntag gewesen, an dem Esthers Seele endlich ihren Körper verlassen hatte dürfen. Ein Körper, den eine fatale Mischung aus Angst, Verzweiflung, Einsamkeit und Nikotin über die Jahrzehnte ausgezehrt und schließlich in ein Schlachtfeld verwandelt hatte – mehr noch als der Krebs, der nur noch das genommen hatte, was übrig war von dieser einst wunderschönen Frau.
Wunderschön und doch vom Glück verlassen.
Das wenige Glück, das ihr beschieden war, schien ihr zeitlebens durch die Finger zu laufen wie feiner Sand. Sie war schlichtweg unfähig gewesen, es festzuhalten.
„Auf mir liegt ein Fluch“, hatte sie Hannah mit sterbend leiser Stimme mitgeteilt, ein Schatten ihrer selbst, eingehüllt in Krankenhausbettlaken, kurz bevor sie gegangen war. „Ich wünsche dir eines von ganzem Herzen, mein Schatz: Dass dieser Fluch nicht ansteckend ist.“
Zuletzt war sie der festen Überzeugung gewesen, dass es ihr Schicksal gewesen wäre, als kleines Mädchen mit ihren Eltern zu sterben. Mit Eli und Rosa. Dass es die Schuld des argentinischen Kindermädchens war, dass sich ihr Leben so entwickelt hatte.
„Sie hat alles