Sünde. Ben Bennett
streckte sich lächelnd in seinem Sessel aus, offensichtlich zufrieden mit dem Inhalt seines Glases und dem Leben im Allgemeinen.
„Beides wunderschöne Städte, ich kann mich nicht entscheiden, welche mir besser gefällt“, erwiderte er. „Was meinen Sie?“
„Ich war noch nie in Wien“, erklärte sie wahrheitsgemäß.
„Dann wird es Ihnen umso märchenhafter vorkommen – vor allem jetzt mit all dem Schnee.“
„Schnee?“
„Ganz Süddeutschland und Österreich sind eingeschneit. Ich hoffe, Sie haben genügend warme Sachen dabei. Zumindest feste Stiefel und einen Mantel.“
Hannahs Blick fuhr über ihr blauweiß geblümtes Sommerkleid hinunter zu ihren Sandalen, aus denen sie ihre nackten Zehen unvermittelt ängstlich anzublicken schienen.
Schnee? Warme Sachen? Stiefel? Mantel?
Fehlanzeige. Sie reiste mit leichtem Gepäck.
Hannahs Herzschlag beschleunigte sich. Vielleicht hätte sie vor ihrer Abreise den Wetterbericht für Wien lesen sollen. In Buenos Aires war es Hochsommer.
Das einzige, was sie an warmen Sachen dabei hatte, waren zwei langärmelige Pullover, eine Jeans und eine fesche Lederjacke. Unvermittelt sah sie ihre restliche Wintergarderobe vor sich – sorgfältig aufgehängt an den Bügeln im Schlafzimmerschrank.
„Minus sieben Grad“, ergänzte Peter Jacobs neben ihr und blickte sie besorgt an.
„Cabin crew, please prepare for departure!“ tönte es aus den Lautsprechern über ihrem Kopf.
Schon heulten die Turbinen auf und die Schwerkraft drückte Hannah tief in ihren Sitz. Sie betrachtete die Landschaft, die draußen vor dem Fenster an ihr vorbeiflog, immer schneller und in immer kürzeren Bildausschnitten.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sich ihre Hände krampfhaft an den Armlehnen ihres Sitzes festkrallten.
„Keine Angst“, vernahm sie die Stimme ihres Sitznachbarn neben sich. „Gleich sind wir in der Luft.“
Für einen Moment entspannte sie sich und schloss die Augen.
„Oder poetischer formuliert: Über den Wolken“, ergänzte Peter Jacobs, der ältere Gentleman an ihrer Seite, mit so viel Samt in der Stimme, dass Hannah es nur zu gern glauben wollte.
Und tatsächlich: Das Leben über den Wolken fing an ihr zu gefallen. Man konnte sich daran gewöhnen, dachte sie, bequem ausgestreckt in ihrem breiten Ledersessel, während ihr Blick hinaus in die endlose weiße Wolkenlandschaft unter ihren Augen fiel, ein Meer von prickelnden Perlen auf der Zunge, in Erwartung weiterer Köstlichkeiten, die schon bald serviert werden würden.
„Womit hast du das verdient...?“, fragte Hannah sich ungläubig in Gedanken, während adrett gekleidete Stewardessen sie mit einer ausgesuchten Freundlichkeit behandelten, als wären sie ihr Hofstaat und sie eine Prinzessin.
Es war ein Traum.
Jetzt begriff sie, wovon die Rede war, wenn es hieß, dass die Zeit wie im Flug vergeht: Von der Business Class.
Als Hannah eine Nacht und einen Tag später schließlich am Portal des Flughafens vor den Toren Wiens stand und auf eine klirrend kalte, schneeweiße Betonlandschaft blickte, fühlte sie sich so frisch und abenteuerlustig wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Da stand sie nun, in Sommerkleid und Sandalen, und war so aufgeregt, dass die gefrorene Luft einfach an an ihr abperlte. Sofort nachdem sie im Hotel eingecheckt hatte, würde sie sich in der Stadt einen warmen Mantel und Stiefel kaufen. Ausreichend Geld hatte sie ja.
Dreitausend Euro in bar, sicher verstaut in …
Ein Blitzschlag durchfuhr Hannah.
Panisch drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Vor ihren Augen stand der große Koffer, der als allererster vom Gepäckband gerollt war. Nur der große Koffer.
Ihr Puls beschleunigte sich in Sekundenbruchteilen auf hundertachtzig.
Doch so sehr sie sich auch drehte und wendete, ihr wurde schlagartig klar, dass sie kein weiteres Gepäck mit sich führte.
„Bitte … bitte … nicht …!“, entfuhr es ihr, während sich kalter Angstschweiß auf ihrer Stirn bildete. Wie in einem Daumenkino sah sie in rasanter Abfolge folgende Dinge vor sich: ihr Handy, ihren Reisepass, ein Bündel Bargeld, das Rückflugticket, die Hotelbuchung und schließlich und endlich die Visitenkarte und das Schreiben mit der Telefonnummer und der Adresse von Maximilian Schön.
All diese so kostbaren und mit ihrem Schicksal untrennbar verbundenen Dinge hatte sie sicherheitshalber an ein und demselben Ort verstaut.
Dem Ort, den die meisten Frauen auf dieser Welt hüten wie ihren eigenen Augapfel.
Und doch führte kein Weg an der schockierenden Erkenntnis vorbei:
Ihre Handtasche – sie war verschwunden.
6
Wo hatte sie nur ihren Kopf?
Nach so vielen Stunden über den Wolken war sie in der harten Realität gelandet. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Hannah zermarterte sich den Schädel, wo sie die kunstvoll mit exotischen Blumen bestickte Handtasche, an der ihr gesamtes Wohlergehen hing, aus den Augen verloren haben konnte. Im Flugzeug jedenfalls war sie definitiv nicht. Bei der Ausweiskontrolle hatte sie noch den Pass aus ihr gefischt, soviel stand fest – aber danach? Sie war so unendlich müde nach dem langen Flug, dass ihre Erinnerung sie im Stich ließ.
Schlagartig wurde ihr klar, in welcher Gefahr sie schwebte. Falls sich die Einladung nach Wien als eine Falle skrupelloser Menschenhändler herausstellen sollte, war ihr der Weg zurück nun verbaut: Sie hatte keinen Peso in der Tasche und keinen Pass, um das Land wieder zu verlassen.
Ihr wurde schwarz vor Augen. Einen Augenblick musste sie sich setzen.
Sie wankte zur nächsten Bank direkt neben dem Eingang, noch immer barfuß in Sandalen; das Metallgestell unter ihrem Po war kalt und feucht. Wenig später spürte sie, wie sich der nasse Schnee durch die dünnen Sohlen fraß.
Sie konnte nichts dagegen unternehmen: Die Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Du … dummes … Huhn …!“
Wie hatte sie nur so achtlos sein können?
Zum allerersten Mal in ihrem Leben sagte sie Ja zu einem Abenteuer, ließ ihre Heimat und alles, was sie jemals gekannt hatte, zurück – und kaum war sie gelandet, ruinierte sie die einzige Chance, die ihr das Leben jemals gewährt hatte, durch ihre eigene Dummheit.
Selbst wenn Maximilian Schön wirklich existierte und die Geschichte, die sein Anwalt ihr am Telefon erzählt hatte, stimmte – was musste er nun von ihr denken, wenn sie aufeinander trafen und sie ihm in Tränen aufgelöst erzählte, dass sie die dreitausend Euro, die er ihr geschickt hatte, verloren hatte? Und zwar noch im Flughafen – sogar noch bevor sie zum ersten Mal die frische österreichische Winterluft in ihren Lungen gespürt hatte. Sie würde ihn um Geld anbetteln müssen, damit sie überhaupt – eines noch ungewissen Tages – wieder unbeschadet nach Buenos Aires zurückkam. Von den sich vor ihrem geistigen Auge auftürmenden bürokratischen Hürden der Beschaffung neuer Papiere ganz zu schweigen. All das zusammengefasst, konnte er ihrer Meinung nach nur zu einem einzigen Schluss kommen: Dass sie ein absoluter Volltrottel war. Sie würde im Boden versinken, sobald sie ihn traf, so sehr schämte sie sich.
„Leonhard und Stern?“
Die Flughafenpolizei hatte die Verbindung für sie hergestellt, nachdem sie den Vorfall aufgenommen hatte. Was hatte Hannah anderes tun können als das Anwaltsbüro anzurufen, an dessen Namen sie sich glücklicherweise noch erinnerte? Abgesehen davon hatte sie ja mit niemandem gesprochen, kannte niemanden. Es war beschämend, am Telefon alles noch einmal erklären zu müssen, was sie gerade schon der Polizei gesagt hatte. Selbst wenn es nur für die Sekretärin war. Es war dieselbe junge,