Scarlett Taylor - Mitternacht. Stefanie Purle
es auch. Aber mit der Zeit lernt man, wie man die Stimmen ausblendet und nur denen zuhört, die man auch hören will.“
„Aber mit den Gedanken anderer klappt das nicht?“, hake ich mit ironischem Unterton nach.
Sie zieht die Augenbrauen zusammen. „Theoretisch schon, aber dann verpasse ich ja das Beste“, scherzt sie und auf ihrem Gesicht breitet sich ein schelmisches Grinsen aus.
„Oh man, es ist bestimmt interessant, die Gedanken aller lesen zu können, oder?“
Jetzt wird ihr Gesicht ernst. „Interessant ja, das schon. Andererseits ist es oft auch sehr verletzend. Zumal die Gedanken nur in den seltensten Fällen mit dem ausgesprochenen Wort identisch sind.“
„Wie meinst du das?“
Sie legt den Kopf in den Nacken und seufzt. „Die meisten Menschen denken in die eine Richtung und reden aber in die andere. Sie denken Nein und sagen Ja, oder umgekehrt. Kaum einer sagt wirklich, was er denkt, und in den meisten Fällen ist das auch gut so. Allerdings macht es dir bewusst, wie unaufrichtig das Verhalten der meisten doch ist.“
Ich frage mich, ob ich selbst auch so handle, wie sie es beschreibt, und ertappe mich dabei, dass ich sehr oft eine Meinung zu einem Thema habe, und dann doch anders handle, weil ich niemanden verletzen will oder gezwungen bin, meine Prioritäten neu zu ordnen.
„Es gibt hunderte Beispiele dafür“, fährt sie fort. „Fast jeder Mensch macht es. Was denkst du, warum ich Single bin und es auch bleiben werde? Die wahren Gedanken eines Menschen zu hören, den du liebst, kann sehr weh tun.“
Ich schaue sie an und sehe eine tiefe Verletzlichkeit in ihrem Blick. Es ist offensichtlich, dass die Gedanken anderer sie schon oft verletzt haben. Ihre Arroganz und Überheblichkeit sind nur eine Fassade, hinter der sie sich selbst versteckt, um nicht verletzt zu werden, das wird mir nun klar.
„Siehst du?“ Sie deutet auf mich und ihre Lippen nehmen die Form eines falschen Lächelns ein. „Das meine ich. Du hältst mich für arrogant und überheblich, hast es aber nicht laut gesagt. Soll ich nun also sauer sein, oder so tun, als hätte ich das nicht gehört?“
Das Blut rauscht in mein Gesicht und meine Wangen beginnen zu glühen. „Tut mir leid“, flüstere ich kleinlaut und senke den Blick. „Ich halte dich nicht für arrogant und überheblich.“
Sie nickt. „Doch, das tust du. Und das ist auch in Ordnung so. Es steht dir frei, zu denken, was du willst. Denn nur ich weiß, wie es in mir drinnen wirklich aussieht. Und meine Meinung über mich ist die einzige, die zählt.“
Sie erhebt sich und ich schaue noch immer ein wenig betreten an ihrer schlanken Statur empor. Man kann sie nur bewundern. Tagein, tagaus muss sie die gedachten Worte der Menschen ertragen, gerade bei ihrer doch recht auffälligen Erscheinung, mit den schneeweißen Haaren, der blassen Haut, den violetten Lippen und Augen. Sie war ein ganz normales Mädchen, doch ein Zauber meines Vaters hat sie so weiß werden lassen. Von einer Sekunde auf die andere wurde sie zum Albino; Ein makabrer Scherz des schwarzen Königs, weil sie einen seiner dunklen Hexen-Coven auflösen wollte. Und doch steht sie jeden Morgen erhobenen Hauptes wieder auf. Ich wünschte, ich könnte mir eine Scheibe ihres Selbstbewusstseins abschneiden.
„Komm, lass uns nach unten gehen und den anderen sagen, dass Ella niemals hier war“, sagt sie, legt für den Bruchteil einer Sekunde die Hand auf meine Schulter und geht dann mit wehenden Gewändern voran.
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